Josef Quack

"Laßt uns nun große Männer preisen"
Hermann, der Lahme




Let us now praise famous men -
For their work continueth,
Broad and deep continueth,
Greater than their knowing!

Laßt uns nun große Männer preisen -
denn ihr Werk dauert fort,
breit und tief dauert es fort,
größer als sie wissen!

R.Kipling

In der unterhaltsamen und gehaltvollen Kulturgeschichte Unser arabisches Erbe von Sigrid Hunke lesend, stieß ich auf Hermann, den Lahmen, oder Hermanus contractus, Sohn eines schwäbischen Grafen, einen schwerbehinderten Gelehrten des 11. Jahrhunderts (1013-1054), der ein seltsames Schicksal hatte, und das Verblüffendste an der ganzen Sache ist, daß sein Schicksal an das Leben Stephen Hawkings erinnert, eines genialen Physikers und Mathematikers unserer Gegenwart, der durch seine Kurze Geschichte der Zeit (1988) weltberühmt wurde. Ich habe seine Überlegungen zur Entstehung des Kosmos studiert und besprochen (cf. J.Q., Über das Ethos von Intellektuellen S.200ff.).

Beide Gelehrte waren körperlich äußerst reduziert, aber, hochbegabt, geistig außerordentlich rege und fruchtbar, keineswegs an ihrem Zustand verzweifelnd, sondern überraschend zuversichtlich, wie man bei Hunke erfahren kann: „Sein heiteres und liebenswürdiges Wesen machte Hermann, den Lahmen, zu dem gesuchtesten und beliebtesten Lehrer des Klosters“, nämlich Reichenau, wo der Grafensohn seit seinem siebten Jahr lebte.

Was Hermanns Krankheit angeht, so vermutet man, daß es eine Art der Lateralsklerose, eines schweren Muskelschwunds, gewesen sein könnte, dieselbe Krankheit, die auch Stephen Hawking befallen hat. Von Hermann wird berichtet, daß er auf den Tragstuhl angewiesen war und für jede Körperbewegung fremde Hilfe brauchte, ähnlich wie Hawking an den Rollstuhl und den Sprechapparat gebunden war (cf. Volker Schmidt in Zeit-Online) .

Sigrid Hunke rühmt vor allem, daß Hermann als einer der eifrigsten Gelehrten Europas das fortschrittliche mathematische und astronomische Wissen des arabischen Kulturkreises sammelte und in eigenen Schriften weitergab. So hat er etwa ein Astrolabium genau beschrieben, ein Meßgerät zur Bestimmung der Höhe der Sterne. Daneben sind bei Wikipedia Werke über den Mondmonat, die Mond- und Sonnenfinsternis, die Sonnenuhr und die Geometrie verzeichnet. Bemerkenswert ist zudem, daß er mit der Minuteneinteilung der Stunde, die nach der Antike in Europa vergessen worden war, genau rechnete und eine eigene Notenschrift erfand. Er war auch Komponist, man schrieb ihm das „Salve Regina“ zu, ein Marienlied, das bis heute in den Gesangbüchern steht.

Schmidt hält seine Weltchronik für Hermanns bedeutendste wissenschaftliche Leistung, weil er darin um exakte Datierung bemüht war: „Als einer der ersten Chronisten bemühte sich Hermann um eine präzise Jahreszählung, die er durch die Datierung astronomischer Ereignisse wie etwa Mond- und Sonnenfinsternisse absicherte.“

Daß er trotz seiner Behinderung 41 Jahre alt wurde, was für mittelalterliche Verhältnisse fast der durchschnittlichen Lebenserwartung entsprach, zeigt wohl, daß er im Kloster sorgsam gepflegt wurde. Er starb übrigens an einer Infektionskrankheit, wahrscheinlich an einer Lungen- oder Rippenfellentzündung. Zum Vergleich: Thomas von Aquin, von stabiler Konstitution, (1225 – 1274), der Europa von Neapel bis Paris und Köln mehrmals durchwanderte, wurde 49 Jahre alt. Bonaventura (1221 – 1274) wurde 53 Jahre alt, Johannes Duns Scotus (1266 – 1308) 42 Jahre. Albertus Magnus (1193 – 1280) war eine Ausnahme, er starb mit 87 Jahren.

Hermanns Schüler und Biograph Berthold versichert, daß sein Lehrer niemals ein Wort der Beschwerde über seine überaus lästige Krankheit oder extreme Gebrechlichkeit geäußert habe. Von ihm stammt auch die Aussage, daß Hermann ein liebenswürdiges Wesen besessen habe. Daß er sein unglückliches Schicksal ergeben angenommen hat, kann man wohl mit seiner christlichen Gläubigkeit erklären.

Der Umstand verweist nämlich auf eine Eigenheit des christlichen Glaubens, die Heinrich Böll einmal beschrieb: „Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen wie der gottlosen Welt vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: für Behinderte und Kranke, Alte und Schwache, und mehr noch als Raum gab für sie: Liebe, für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.“

Daß Hermann seine Gebrechlichkeit geduldig ertrug, kann man also durchaus mit seinem Glauben begründen; daß er jedoch trotz seines Geschicks ein heiteres Gemüt besessen hatte, kann man meines Erachtens nicht mit seiner gläubigen Haltung erklären, die eine Sache des Willens ist. Heiterer Sinn aber ist eine natürliche Veranlagung, die man sich kaum selbst anerziehen oder willentlich angewöhnen kann. Derartige Versuche ergeben bekanntlich nichts als eine verkrampfte, unechte Lustigkeit.

Man könnte vermuten, daß dieser unerwartete, überaus sympathische Zug eine fromme Erfindung des Biographen sei – dagegen aber spricht, daß Berthold in der Vita Hermanns wohl kaum einem legendenhaften Verfahren folgte, sondern eher der Methode der genauen Tatsachenbeschreibung, die ihn Hermann gelehrt hatte.

Für uns heute bleibt erstaunlich, daß ein Mensch mit der schwersten Behinderung, der körperlich praktisch unbeweglich ist, geistig in höchstem Maße produktiv sein kann. Hier hat uns das Beispiel Stephen Hawkings vor Augen geführt, daß eine derartige Einstellung und ein derartiges Wirken eines Wissenschaftlers tatsächlich möglich sind. Rätselhaft und unerklärt aber bleibt, daß Hermann in seiner körperlichen Hilflosigkeit dennoch einen heiteren Sinn und ein liebenswürdiges Wesen gehabt haben soll.

Übrigens wurde Hermann wohl von seinen Bewunderern als Heiliger verehrt, von der Kirche aber niemals heilig gesprochen, was jedoch unsere Bewunderung für ihn und seine tapfere Haltung gegenüber seinem Schicksal nicht vermindern kann.

© J.Quack — 24. Juli 2023


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