Josef Quack

"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern"
Formale Demokratie und AfD




Niemand hat bisher ein demokratisches System erfunden, das ohne Parteien auskommt. Aber politische Parteien sind keine allzu erfreulichen Erscheinungen. Andererseits ohne Parteien geht es nicht. Alle unsere Demokratien sind keine Volksregierungen, sondern Parteienregierungen.

K. Popper

Formal heißt eine Demokratie, die nach formalen Regeln und Prinzipien verfährt. Solche formalen Grundsätze sind etwa die folgenden:

♦ die Menschenrechte gelten für alle Menschen ohne jede Einschränkung

♦ „ein Bürger – eine Stimme“, wobei materiale Merkmale wie Einkommen, Religion, sozialer Status keine Rolle spielen. Die Stimme eines Analphabeten oder Arbeitslosen zählt genauso viel wie die Stimme eines Millionärs oder Chefarztes;

♦ „Mehrheit ist Mehrheit“. Bei Abstimmungen kommt es nur auf das gezählte Ergebnis an. Ob der Kanzler sich selbst gewählt hat, wie Adenauer 1949, ist belanglos;

♦ jede Partei hat die gleichen Rechte wie die anderen Parteien, solange sie das Grundgesetz respektiert.

Gegen die zuletztgenannte Regel aber haben die etablierten Parteien des Bundestages verstoßen, als sie sich weigerten, einen Vertreter der AfD in das Präsidium aufzunehmen. Das war, um mit Talleyrand zu reden, schlimmer als eine Dummheit, nämlich ein Fehler, und zwar aus den folgenden Gründen:

♦ mit dieser Weigerung haben die Altparteien die Regeln der formalen Demokratie verletzt;

♦ sie haben paradoxerweise damit bestätigt, daß diese Partei tatsächlich eine Alternative für Deutschland ist, insofern sie gegen alle anderen Parteien steht;

♦ sie haben eine Partei, die zehn Prozent der deutschen Wähler repräsentiert, aus der Leitung des Parlaments ausgeschlossen;

♦ sie haben damit nicht nur eine Parteiorganisation aus einer wichtigen Funktion des Parlaments ausgeschlossen, sondern auch die parlamentarischen Rechte ihrer Wähler mißachtet;

♦ da diese Partei, relativ gesehen, ihre meisten Anhänger in Ostdeutschland hat, wurde durch jene parlamentarische Zurücksetzung der Ost-West-Gegensatz in Deutschland verschärft und die Dominanz der westdeutschen Politiker über die ostdeutschen Politiker bestätigt;

♦ die fünf Altparteien grenzen sich von der neuen, rechten Partei institutionell ab, statt sich mit ihrem Programm und politischen Anspruch auseinanderzusetzen;

♦ schließlich haben die etablierten Parteien durch ihre Abgrenzungsmaßnahme das schlichte Gefühl für politische Fairneß eklatant verletzt, und dies dürfte auch ein Grund sein, die Partei der politischen Schmuddelkinder gerade deshalb zu wählen.

In dem Verhalten der etablierten Parteien hierzulande zeigt sich ein Vorurteil, das typisch neudeutsch zu sein scheint, die Meinung, daß es in Deutschland keine Partei rechts von Christ- und Freidemokraten geben dürfe. Ein Blick auf Europa zeigt aber, daß fast jedes Land eine starke nationalistische Partei hat, in England, Italien, Polen und Ungarn bilden sie sogar die Regierung. In England ist das Nationalbewußtsein die selbstverständlichste Sache der Welt, in Frankreich wird es demonstrativ gezeigt, in Polen und Ungarn aus schlechter historischer Erfahrung – vierzig Jahre unter der Knute Moskaus – aber gewaltig übertrieben.

Außerdem ist die Einstellung der fünf bundesdeutschen, das Parlament beherrschenden Alt-Parteien überaus entlarvend: sie machen Front gegen eine Partei, die beansprucht, allein die wahren Interessen der Bundesrepublik zu vertreten. Es mag viele Motive geben, diese Partei zu wählen, der zentrale Punkt ihres Programms dürfte jedoch in den meisten Fällen überwiegen. Ihre Wähler sind tatsächlich der Meinung, daß die Interessen der Bundesrepublik weder von der Bundesregierung noch von der Opposition wahrgenommen und verteidigt werden.

Ebendies aber ist der empfindlichste Vorwurf, den man Parteien und einer Regierung machen kann. Darauf aber haben die führenden Figuren dieser Institutionen keine Antwort, sie behelfen sich mit Ausgrenzung und Abwehrgesten, nach der Parole: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“. Und dann wundern sich die Berliner Biedermänner und Biederfrauen, daß die abgewehrte und ausgegrenzte Partei auch in Westdeutschland an Stimmen kräftig zunimmt. Die Zweifel, ob die derzeit Regierenden in Berlin die Interessen des Landes verfolgen, sind offenkundig.

Außer der Weigerung, die AfD an der Leitung des Bundestages zu beteiligen, ist den etablierten Parteien nichts anderes eingefallen, als die Rechtspartei in einigen Bundesländern vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen. Dieser Maßnahme haben selbst einige unerleuchtete Stimmen der öffentlichen Meinung zugestimmt. Was aber ist der Zweck dieser Überwachung? Die Sammlung von Material, um ein Verbot der Partei zu begründen. Selbst der Spiegel hat – in einem Anfall von Staatstreue – das Verbot der Rechtspartei gefordert und damit aber ein weiteres Mal seine politische Inkompetenz und Ahnungslosigkeit bewiesen.

Die politischen Befürworter der Überwachung durch den Verfassungsschutz haben ein kurzes Gedächtnis. Sie haben vergessen, daß vor zwanzig Jahren der Versuch gescheitert ist, eine andere rechtsradikale Partei, die NPD, vom Verfassungsgericht verbieten zu lassen. Es hatte sich nämlich herausgestellt, daß einige hohe Funktionäre V-Leute des Verfassungsschutzes waren! Eine groteske Situation, eine politische Blamage.

Damals, im September 2002, schrieb ich: „Es handelt sich um die absurde Posse einer unterwanderten rechtsradikalen Partei, die von Staats wegen so gründlich überwacht wurde, daß ein gut Teil der Vorstandsleute Spitzel waren und die Buben sich recht eigentlich selbst bespitzelten. Die Agenten, die eine Verschwörung aufdecken sollten, mußten feststellen, was sie schon vorher hätten wissen können: daß sie Esel waren. Und das oberste Gericht konnte wegen dieser peinlichen Tatsachen den Verbotsantrag nur zurückweisen.

So einzigartig jene Farce auch zu sein schien, in der Literatur wurde der Fall vor hundert Jahren in allen Konsequenzen vorweggenommen und durchgespielt. Gemeint ist G.K. Chestertons großer Roman  Der Mann, der Donnerstag war (1908). Da wird ein Geheimagent angeheuert, um eine anarchistische Verschwörung auszuspähen, und es stellt sich heraus, daß die mutmaßlichen Anarchistenführer allesamt Agenten derselben staatlichen Organisation sind. Eine erzählerische reductio ad absurdum, wie es keine zweite gibt.

Freilich hat der Vergleich der politischen Affäre mit der imaginierten Fabel seine Grenzen. So reichhaltig, tiefsinnig und amüsant wie ein Roman Chestertons kann natürlich keine bürokratisch-politische Fehlleistung sein, mag die Phantasie der sonst offensichtlich müßiggehenden Staatsdiener auch noch so üppig wuchern. Bei diesem Autor sind wie bei Shakespeare selbst die Dummköpfe geistreich, bei uns sind es nicht mal die Intelligenten, nicht zu reden von jenen menschenähnlichen Figuren, die man übereingekommen ist, Politiker zu nennen.“

© J.Quack — 13. Okt. 2023


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