Josef Quack

“In der alten Zeit, wo das Wünschen noch geholfen hat”
Märchenzeit




Ich muß leider feststellen, daß es tatsächlich Menschen von Fleisch und Blut gibt, die glauben, daß Märchenerzählungen schlecht für Kinder seien.

G.K. Chesterton

Die Klage Chestertons bezieht sich natürlich auf die gewöhnlichen, echten Volksmärchen, wie sie etwa die Brüder Grimm gesammelt, sprachlich geformt und veröffentlicht haben. Sie bezieht sich nicht auf die sogenannten Kunstmärchen, künstlich gestaltete Märchen im Stil der Volksmärchen, und sie bezieht sich erst recht nicht auf die mißlungenen künstlich erdichtenden Märchen, von denen man mit allem Recht sagen muß, daß sie schlecht für Kinder sind. Von dieser Art scheinen mir die vielgerühmten Märchen Andersens zu sein, die ich wegen ihres Inhalts, nicht wegen ihrer Form Pseudomärchen nennen möchte.

Andersens Pseudomärchen

Zu beachten wäre bei Chestertons Diktum, daß er zu einer Zeit und in einer Gesellschaft lebte, in der die Bräuche der Weihnachtstage noch nicht total kommerzialisiert waren wie in der Jetztzeit. So hat man aus rein kommerziellen Gründen drei Kunstmärchen Andersens als illustriertes Kinderbuch aufgemacht und unter dem Titel veröffentlicht: Die schönsten Weihnachtsmärchen von Hans Christian Andersen (Hamburg ohne Jahresangabe, aber nach der vermurksten neuen Rechtschreibung zu urteilen, vor wenigen Jahren). Der Titel ist ein Etikettenschwindel, da die Geschichten weder echte Märchen noch schön sind, sondern künstliche Gebilde, die eine merkwürdige Gemütskälte verbreiten, die mit der anheimelnden Aura von Märchen nichts zu tun hat.

Der Band enthält die drei Erzählungen: „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“, „Der Tannenbaum“, „Der Schneemann“. Die erste Erzählung endet mit dem Tod eines armen Mädchen, das Streichhölzer verkaufen muß, sich im Frost an den brennenden Hölzchen wärmte, dann aber erfroren ist mit der Vorstellung, in den Armen der Großmutter in den Himmel zu kommen. Die zweite Erzählung handelt von der falschen Sehnsucht eines Tannenbaumes, der Weihnachtsbaum wird, dann aber nach der kurzen Zeit des Schmuckes und des Glanzes auf den Dachboden kommt und schließlich entnadelt im Ofen landet. Die dritte Erzählung beschreibt die unsinnige Sehnsucht eines Schneemannes nach der Wärme eines Ofens und sein Ende unter den Strahlen der Frühlingssonne.

Es sind Geschichten der Desillusion, Geschichten der falschen Hoffnung und der enttäuschten Erwartung, wobei die erste Erzählung eine Vorstellung des christlichen Jenseits schildert, die höchst unzulänglich und enttäuschend, alles andere als himmlisch ist. Die Erzählungen passen gewiß nicht für Kinder. Sie haben nichts Tröstliches, wie es bei echten Märchen gemeinhin der Fall ist. Es sind Geschichten im Stil von Kindermärchen, für Erwachsene bestimmte Pseudomärchen, oft christlich verbrämt, literarische Zwitter oder Mißgestalten.

Ähnliches muß man von dem „Standhaften Zinnsoldaten“ sagen, der im Feuer des Ofens mit der verehrten papiernen Tänzerin landet, wobei das Feuer seine Liebesleidenschaft bedeuten soll, eine konstruierte allegorische Erzählung, freilich ohne die Wärme eines glücklich endenden echten Märchens. In der Geschichte über die „Schneekönigin“ ist von dem Nichts in einem Spiegel die Rede, was gewiß über das Verständnis von Kindern geht, und in der Erzählung über die „Nachtigall“ werden die guten und bösen Taten eines Menschen sowie der Tod wiederum allegorisch dargestellt.

Die „Schneekönigin“ endet damit, daß der Junge und das Mädchen erwachsene Menschen werden und den Sinn eines Kirchenliedes verstehen können. Der Schlußsatz lautet: „Da saßen sie, beide erwachsene Menschen und dennoch Kinder, Kinder im Herzen, und es war Sommer, warmer gesegneter Sommer“. Damit hat Andersen die Leser charakterisiert, für den seine Geschichten im Märchenstil bestimmt sind: Erwachsene, die für die Dauer der Lektüre eine kindliche Geisteshaltung einnehmen, Leser, die sich vorstellen, wie ein Kind die jeweilige Geschichte auffassen werde – eine ziemlich verquere, gekünstelte Zumutung an den verehrten Leser!

Dies ist auch das Konzept, das dem wohl bekanntesten und in Grenzen besten Märchen Andersens zugrundeliegt: „Des Kaisers neue Kleider“. Nur Erwachsene können die Prozedur der betrügenden Schneider glaubhaft finden; im übrigen ist die Erzählung viel zu lang, da sie im Kern eine breit ausgeführte Anekdote ist, die in gedrängter Form, so wie sie meistens nacherzählt wird, weitaus wirkungsvoller und glaubhafter wäre. In gewisser Weise ist auch das „Häßliche Entlein“ enttäuschend. Wenn man die Pointe der Geschichte kennt, daß das Entlein in Wirklichkeit ein Schwan ist, findet die ganze lange Leidensgeschichte des jungen Tieres eine rationale, aber triviale Erklärung und damit verliert die Geschichte den Reiz eines Märchens.

Ich denke, damit sind genug Gründe und Belege angeführt, die es rechtfertigen, Andersens Geschichten der Desillusion, geschrieben im Stil von Kindermärchen, Pseudomärchen zu nennen.

Volksmärchen

Die klassischen Beispiele für echte Märchen sind die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die auch Chesterton im Auge hat. Nach meiner Ansicht erfüllen diese Märchen für Kinder drei Aufgaben oder, anders gesagt, ihr Sinn besteht darin:
— daß sie den Kindern den fundamentalen Unterschied zwischen Dichtung und Wirklichkeit, Fiktion und Realität, lehren;
— daß sie den Kindern zeigen, wie man mit seiner Furcht und seinen Ängsten fertig werden kann;
— daß sie zu den Kindern in einem klaren, verständlichen, vorzüglichen Deutsch sprechen.

♦ Märchen sind die erste Sprachschule für Kinder. Sie vermitteln ihnen Grundsätze und Maximen in einer unvergeßlichen Form, wie die Wendung: „In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat“. Damit wird zugleich der wesentliche Charakter der Märchenwelt angegeben. Es ist eine Welt, in der allein das Aussprechen eines Wunsches bewirkte, daß er erfüllt wurde. Das nennt man Zaubern: mit Worten eine Handlung ausführen. „Mutabor“ (ich verwandle mich) aussprechen und im gleichen Augenblick sich in einen Storch verwandeln.

Die Märchenwelt ist eine magische, zauberhafte Welt, und damit unterscheidet sie sich wesentlich von der alltäglichen Welt unserer Wirklichkeit. Das Kind erfährt durch das Märchenerzählen, daß es neben der wirklichen Welt noch eine mögliche Welt geben könnte, die man sich in der Phantasie vorstellen kann. Die Erkenntnis dieser Differenz, der Möglichkeit einer anderen Welt, ist ein gewaltiger Fortschritt in der geistigen Entwicklung des Kindes.

Was diese Entdeckung oder diese Einsicht für ein Kind bedeutet, können wir als Erwachsene wohl kaum nachvollziehen, wie es denn meines Erachtens für große Leute unmöglich ist, sich geistig an die Stelle eines Kindes zu versetzen. Deshalb sind viele Kinderbücher fast notwendig enttäuschend. Kipling sagt in seinen Schulgeschichten einmal: „Kein Mensch weiß, was in den Köpfen von Halbwüchsigen vor sich geht, am wenigsten die Besitzer dieser Köpfe selbst“. Deshalb behandelt er diese Schüler wie die Angehörigen eines wilden Stammes. Sein Wort aber gilt erst recht für die kleineren Kinder, von denen wir einfach nicht wissen können, wie ihr vorsprachliches Denken beschaffen ist. Kaum besser faßbar ist uns, was und wie Kinder im Anfangsstadiums des Sprechens sich und ihre Umgebung erleben. Kurzum, kein Mensch kann die Erlebnisweise und Denkungsart eines Kindes wirklich verstehen.

Beiseite gesprochen, nehme ich an, daß wir zuerst lernen, uns in der Wirklichkeit zurechtzufinden und erst danach durch die Märchen und Spiele lernen, daß es eine mögliche, phantastische Welt geben kann. Ich nehme also mit Karl Bühler an, daß die magische Weltsicht eine sekundäre Einstellung ist. Daraus folgt dann, daß die These von einem prälogischen Denken kaum haltbar sein dürfte (cf. J.Q., Wenn das Denken feiert. S.146ff.).

♦ Die echten Märchen haben die wunderbare Fähigkeit, aufzuzeigen, wie man mit den ärgsten Befürchtungen und schlimmsten Ängsten fertig werden kann. Sie schildern grausamste Szenen, abstoßende Unholde und verzweifelte Lagen, zeigen dann aber auch, daß es eine Rettung aus der Zwangslage geben und der größte Feind besiegt werden kann. Der einzigartige Vorzug der Märchen besteht darin, daß sie darstellen, daß es die Möglichkeit eines guten Ausgangs aus der verzweifeltsten Not geben kann.

Die Möglichkeit aber ist das Rettende, wie Kierkegaard sagt, indem er in der Krankheit zum Tode ein Szenarium der Verzweiflung ausmalt: „Denk dir einen Menschen, der mit dem ganzen Grausen einer erschreckenden Einbildungskraft sich vorgestellt hat, dieses oder jenes Schrecknis sei unbedingt nicht auszuhalten. Nun begegnet es ihm, gerade dieses Schrecknis begegnet ihm“, der menschlich gesprochen nun dem Untergang der Verzweiflung verfallen sei. Ihm wird dadurch geholfen, daß er an eine Möglichkeit des Ausgangs glaubt: „Möglichkeit ist das allein Rettende“. Dies aber ist die Eigenart des Märchens und dies scheint mir die treffendste Erklärung des märchenhaften Wesens zu sein.

Gegen den Einwand, es sei grausam, Kindern Märchen zu erzählen, weil sie sich fürchten, macht Chesterton geltend, daß ein Kind von sich aus fast unendlich viele Schreckgestalten sich vorstellt – aus dem einfachen Grunde, weil es natürlich ist, sich vor dem Unbekannten zu fürchten und ein Kind in eine Welt geworfen ist, die für es zunächst praktisch nur Unbekanntes enthält: „Die Furcht kommt eben nicht von den Märchen, sie entsteht im All der Seele“. Und vor allem: „Märchen bringen dem Kind nicht seine erste Vorstellung von einem Fürchtemann bei. Was die Märchen dem Kind geben, ist die erste klare Vorstellung, wie man den Fürchtemann vielleicht besiegt. … Es macht ihn durch eine Reihe klarer Bilder mit der Vorstellung vertraut, daß alle diese unendlichen Schrecken doch ein Ende haben.“ Es macht ihnen mit Helden, wie Roland, Siegfried und St. Georg vertraut, die jene gestaltlosen Feinde besiegen.

So ist der tyische Märchenschluß ein glückliches Ende, oft eine vornehme Heirat, vielfach auch ein reicher Schatz und wie die erfüllten Wünsche alle lauten, die ich nicht weiter aufzuzählen brauche. Allgemein gesprochen, könnte man die Schlußworte von „Hänsel und Gretel“ als das passende Ende aller Märchen betrachten: „Da hatten alle Sorgen ein Ende“.

♦ Die Märchen der Brüder Grimm sind eine vorzügliche Sprachschule. Der von ihnen geformte Text der Volksmärchen ist eine anschauliche Prosa, die immer das Konkrete beschreibt, aber nur in signifikanten Einzelheiten, dann aber meist eine Lebensweisheit in prägnanten Wendungen aussprechen. Ungezählte Märchenaussprüche sind in das Gedächtnis der Leser eingegangen. „Sieben auf einen Streich“, „Hans im Glück“, „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“, „Wer ist die Schönste im ganzen Land“, „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“ usw.

Ich will nur an die unheimliche, tiefsinnige Antwort des Rumpelstilzchens erinnern, dem der Reichtum eines Königreiches angeboten wird: „Nein, etwas Lebendes ist mir lieber als alle Schätze der Welt“. Vielleicht weiß der eine oder andere Leser noch, daß es in den achtziger Jahren eine von Politik und Gesellschaft enttäuschte Aussteigerszene gab, die sich an der Weisheit der „Bremer Stadtmusikanten“ orientierte. Bekanntlich schließen sich alterschwache, nutzlos gewordene Tiere, ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn zu einer Gruppe von Musikanten zusammen unter dem Motto: „Zieh mit uns fort, wir gehen nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall“. Jene Aussteiger aber nannten sich nach diesem Motto „Komm mit“.

Die Brüder Grimm aber schufen mit ihrer anschaulich schildernden Prosa in reinem Deutsch eben jene Atmosphäre, die wir als typisch märchenhaft empfinden. So beginnt etwa das Märchen vom tapferen Schneiderlein: „An einem Sommermorgen saß ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster, war guter Dinge und nähte aus Leibeskräften. Da kam eine Bauersfrau die Straße herab und rief ‚gut Mus feil! gut Mus feil!‘ Das klang dem Schneiderlein lieblich in die Ohren, er streckte sein zartes Haupt zum Fenster hinaus und rief ‚hier herauf, liebe Frau, hier wird sie ihre Ware los‘“. Nachdem er die Fliegen erledigt hatte, heißt es: „Als es zählte, so lagen nicht weniger als sieben vor ihm tot und streckten die Beine“, d.h. das abstrakte Wort „tot“ wird durch eine konkrete Beobachtung veranschaulicht und verständlich gemacht.

Wie wird nun ein Text dieser Art, dessen Sprache und Ausdrucksweise immerhin zweihundert Jahre alt sind, heute in Märchenbüchern präsentiert? Erstens wird die Sprache der heutigen Sprechweise angepaßt – in der irrigen Annahme, daß Kinder nur solche Redewendungen verstehen können, die sie auch selbst gebrauchen. Man vergißt, daß es neben dem aktiven Wortschatz auch einen passiven Wortschatz gibt und Kinder gerade begierig sind, unbekannte Wörter zu lernen, die sie oft ganz spaßig finden.

Die zweite Methode, alte Märchen zu präsentieren, besteht in einer unbarmherzigen Kürzung und Zusammenstreichung des Textes zugunsten der farbigen, grell-bunten Illustration. Der Reiz der Sprache, die die typische Märchenstimmung recht eigentlich schafft, wird unterschlagen und an seine Stelle die bildliche Anschauung gesetzt, die aber eine völlig andere geistige Wirkung hervorruft als eine Geschichte aus Worten. Vorbild für diese Bebilderung sind nicht die graphischen oder malerischen Künste, nicht die alten Kupferstiche und Aquarelle, sondern die filmische Animation, von denen die süßlich flachen, schematischen Zeichentrickfilme von Walt Disney eine berüchtigte Bekanntheit erlangt haben.

So gibt es etwa eine Ausgabe des „Tapferen Schneiderleins“, die durch filmische Animation recht prächtig bebildert wurde, bei dem der Text aber praktisch nur noch als Untertitel der Bilder fungiert. Die Geschichte wird in zwölf dominierenden Bildern erzählt, die durch wenige Zeilen jeweils erklärt werden. Die Illustrationen verströmen durchaus einen gewissen Reiz und eine eingängige Schönheit, doch ist es nicht der Reiz der originalen Prosakunst. In Grimms Märchenausgabe dagegen wird der zehnseitige Text von sechs zeitgenössischen Kupferstichen in kleinerem Format begleitet, die die eigentümliche Stimmung des Märchens ausdrucksvoll unterstreichen und bekräftigen.

Die modernen Märchenausgaben mögen einem modischen Trend des dominierenden Visuellen zu Lasten der Sprache folgen; mir scheint es für Kinder aber nicht gerade förderlich zu sein, daß Sprachvermögen und Sprachkunst auf diese Weise zurückgedrängt und vernachlässigt werden. Sollte die Bildung der Sprache nicht gerade ein Ausgleich und eine Korrektur in einer Medienwelt des dominierenden Fotobildes sein? Und bestünde nicht auch in der unverwechselbaren Sprachgestalt der einzigartige Vorzug der alten Märchen?

© J.Quack — 11. Dez. 2023


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