Josef Quack

Fragwürdiges im «Wörterbuch der philosophischen Begriffe»
Über Willensfreiheit




Im Wörterbuch der philosophischen Begriffe, das in dem renommierten philosophischen Felix Meiner Verlag erschienen ist und von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (1998) übernommen wurde, finden sich viele fragwürdige Einträge. Ich habe in dem Buch Wenn das Denken feiert (S.167ff.) und in dem Artikel Fehler etliche Lücken, Fehler und Irrtümer des Wörterbuchs aufgezeigt.

Der fragwürdigste Eintrag dieses Handbuchs ist jedoch ein Passus zu dem Stichwort der „Willensfreiheit“. Es heißt da, daß Kant den empirischen, determinierten Charakter des Menschen von dem intelligiblen freien Charakter unterscheidet: „Dieser Ansicht I. Kants steht in gewisser Hinsicht die moderne Auffassung nahe, daß das Problem der W. [Willensfreiheit] ein Scheinproblem der Wissenschaft ist, indem vom Standpunkt des erlebenden Ich Wahlfreiheit besteht, von außen gesehen das Wollen des Menschen aber immer kausal determiniert erscheint.“ (l.c. 735)

Damit wird schlicht und einfach behauptet, daß die Willensfreiheit eine Täuschung des Menschen ist, und kategorisch festgestellt, daß die moderne Wissenschaft als solche den Standpunkt des Determinismus vertritt, was eine falsche Behauptung ist. Außerdem beruht unsere ganze Rechtsprechung darauf, daß die Täter für ihre Taten verantwortlich sind, was voraussetzt, daß die Freiheit des Willens keine Fiktion ist.

Insgesamt sind dieser Eintrag des Wörterbuchs, ebenso die Erklärungen zu Determinismus und Indeterminismus, derart unzulänglich und höchst fragwürdig, daß eine Gegendarstellung in Form einer Kritik angebracht ist. Ich stütze mich dabei auf den klassischen Aufsatz von Karl Popper zum Thema: „Wolken und Uhren. Zum Problem der Rationalität und der Freiheit des Menschen“ in Objektive Erkenntnis (Hamburg 1995). Ich werde aber nicht alle Argumente Poppers anführen, sondern nur die wichtigsten; die folgenden Hinweise können also die Lektüre des ideenreichen Aufsatzes nicht ersetzen.

Folgende Punkte stehen im diametralen Gegensatz zu den Behauptungen jenes Eintrags oder werden überhaupt nicht erwähnt, obwohl sie für das Thema überaus wichtig sind.

1. Die überwiegende Mehrheit der modernen Physiker vertritt heute das Prinzip des Indeterminismus.

2. Nach dem physikalischen Determinismus ist die physische Welt ein abgeschlossenes System, das keinerlei Einwirkung psychischer oder geistiger Art zuläßt.

3. Der physikalische Indeterminismus beruht auf der quantentheoretischen Unbestimmtheit und enthält damit ein Moment des Zufalls.

4. Damit ist immerhin die Möglichkeit der Willensfreiheit nicht mehr prinzipiell ausgeschlossen.

5. Doch wird damit die menschliche Freiheit und Kreativität nicht befriedigend erklärt, da nur eine Schnapp-Entscheidung, eine unüberlegte, spontane Entscheidung mit dem Zufallsprinzip als möglich eingeräumt wird.

6. Gesucht ist aber die Möglichkeit einer rationalen Entscheidung im Sinne einer plastischen Steuerung nach einer kritischen Prüfung der Probleme. Die Steuerung unserer Handlungen sollte plastisch, nicht starr sein, d.h. sie sollte uns nicht zwingen, den Überlegungen zu folgen, sondern die Freiheit der Wahl einräumen, ein Argument zu übernehmen oder es abzulehnen.

7. Das ist der Kern von Poppers Aufsatz, der die Möglichkeit einer plastischen Steuerung des menschlichen Verhaltens, die Möglichkeit einer rationale Entscheidung in einem evolutionstheoretischen Rahmen aufzeigt. Es geht um das Problem, wie die Welt abstrakter Bedeutungen das menschliche Verhalten und damit die physikalische Welt beeinflussen kann (l.c.240). Wissenschaftliche Theorien, Gründe und Ziele haben tatsächlich eine Kraft, uns zu beeinflussen: „Ein Teil der Funktion von Inhalten und Bedeutung ist die Steuerung“ (l.c. 250). Denn es ist offensichtlich, daß "nichtphysikalische Dinge wie Zwecke, Überlegungen, Pläne und Entscheidungen, Theorien, Absichten und Werte dabei mitspielen können, physikalische Änderungen in der physikalischen Welt herbeizuführen" (l.c. 238).

8. Nach diesem Weltbild ist die physikalische Welt ein offenes System (l.c.266).

9. Wichtig ist zudem Poppers Analyse, daß der philosophische oder psychologische Determinismus, wie ihn zum Beispiel Hume oder Schopenhauer vertreten haben, mit dem physikalischen Indeterminismus durchaus vereinbar ist, da er mit den Begriffen von Ursache und Wirkung arbeitet, die ungenau und unbestimmt sind (l.c. 229). Grundsätzlich wäre zudem festzuhalten, daß es heute keine allgemeine Theorie der Kausalität gibt (l.c.267).

10. Ein anschauliches, sehr plausibles und drastisches Argument gegen den physikalischen Determinismus ist das folgende: „Wenn der physikalische Determinismus recht hat, dann könnte ein völlig tauber Physiker, der nie einen Ton Musik gehört hat, sämtliche Sinfonien und Konzerte von Mozart und Beethoven schreiben, indem er einfach den genauen physikalischen Zustand ihres Körpers untersucht und voraussagt, wo sie schwarze Zeichen auf liniertes Papier machen würden.“ (l.c.232) Eine absurde Annahme, wie Popper meint. In der Tat ist die Vorstellung, daß man aus der Beschreibung des Hirns eines Künstlers oder Forschers ihre späteren Leistungen ableiten könne, geradezu lächerlich.

Gegen den konsequenten Determinismus im Sinne der physikalischen Welt als eines abgeschlossenen Systems hat Werner Heisenberg einen Einwand vorgebracht, den man wohl als vernichtend bezeichnen muß. Eine streng deterministische Formulierung des Kausalgesetzes lautet: „Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen“. Dazu erklärt Heisenberg, daß darin die Voraussetzung falsch sei: „Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen“ (zitiert bei A. Fölsing, Albert Einstein. Frankfurt 1995, 666).

John Eccles, renommierter Hirnforscher, gibt auf den deterministischen Einwand, daß ein Selbst nicht imstande sei, in die kausale Ordnung der Natur einzugreifen, wie es im Falle der Willensfreiheit nötig wäre, eine sachkundige, neurologische Antwort. Er hat die Hypothese formuliert und im einzelnen ausgearbeitet, „daß das Selbst in der Tat in die kausale Ordnung eingreift, indem es analog einem Wahrscheinlichkeitsfeld der Quanenmechanik auf mikroskopische synaptische Zusammenhänge im Gehirn einwirkt. Der Glaube der Willensfreiheit braucht also nicht aufgegeben zu werden, weil er etwa der Physik zuwiderliefe“. (John C. Eccles, Die Evolution des Gehirns – die Erschaffung des Selbst. München. Dt. F. Griese. 1989, 376)

Dabei nimmt er, wie allgemein üblich, an, daß der Wille auf eine Willkürbewegung einwirkt, „deren moralische Konsequenzen vom Selbst bewertet werden. Die willentliche Handlung schließt also eine moralische Verantwortung ein.“ (l.c. 375)

Der prominenteste Physiker, der an der Theorie des physikalischen Determinismus trotz der Erfolge der indeterministischen Quantentheorie festgehalten hat, war bekanntlich Albert Einstein. Dies aber hatte schwerwiegende Folgen für eine Ethik. Wenn es keine Willensfreiheit gibt, dann gibt es auch keine moralische Pflicht, keine moralische Verantwortung und keine moralische Schuld im eigentlichen Sinne. Möglich ist allenfalls eine Mitleidsethik im Sinne Schopenhauers; Näheres in meinem Aufsatz über die Grenzen einer säkularen Ethik.

Einstein war sich dessen durchaus bewußt, doch war er nicht ganz konsequent in seinen Schlußfolgerungen, da er an der moralischen Verantwortung des Menschen festhielt: „An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit.“ Er stimmt dem Spruch Schopenhauers zu: „Ein Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will“, und ergänzt: „Dieses Bewußtsein mildert in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl und macht, daß wir uns selbst und die anderen nicht gar zu ernst nehmen.“ (Mein Weltbild. Frankfurt 1955, 7).

Anläßlich der Nürnberger Prozesse erklärt er: „Äußerer Zwang kann die Verantwortung des Individuums in gewissen Sinne mildern, aber nicht aufheben“ (l.c. 15). Dem widerspricht die Aussage: „Weil der Mensch nach äußerer und innerer gesetzlicher Notwendigkeit handelt, [sei er] vom Standpunkt Gottes aus nicht verantwortlich“. Daraus folgert Einstein, daß es einen moralischen Gott als strafender und belohnender Richter nicht geben könne (l.c. 19).

Was nun sein starkes politisches und soziales Engagement angeht, seine tatkräftige Vertretung jüdischer Interessen, seine Hilfeleistungen für verfolgte Juden, seine publizistische Unterstützung Israels, des Staates und der Universität in Jerusalem, seinen grundsätzlichen Pazifismus, seine leidenschaftliche Werbung für eine Weltregierung, die jeden atomaren Krieg verhindern können sollte, so lassen sich diese Anstrengungen moralisch am besten mit der Mitleidsethik erklären, die er sich zu eigen machte. Es ist aber auch ebenso unbestreitbar, daß sein öffentliches Wirken von seinem Verantwortungsgefühl gefordert wurde, das seinem deterministischen Glauben eigentlich widerstreitet.

Während man aber sein öffentliches Wirken immerhin noch verstehen kann, ist sein privates, familiäres Verhalten einigermaßen befremdlich. Daß er sein erstes Kind, sozusagen ungesehen, zur Adoption gab und daß er zu seinem schizophrenen Sohn keinen persönlichen Kontakt unterhielt, läßt sich weder mit einer Ethik des Mitleids noch mit einer Ethik der Verantwortung vereinbaren. Die deterministische Erklärung, er habe aufgrund von "innerer gesetzlicher Notwendigkeit" gehandelt, klingt wie eine Ausrede. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, sondern nur noch feststellen, daß der geniale Mann ein Mensch mit einigen Widersprüchen gewesen war.

J.Q. — 29. Dez. 2023

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