Josef Quack

Feuilletonismus, christlich




Ein Feuilleton schreiben heißt auf einer Glatze Locken drehen.

K. Kraus

Wenn die Religion in der Talkshow angekommen ist, ist sie an ihrem Ende angekommen.

J.Q.

Ehrlich gesagt, mir ist es leid, laufend die Verfallserscheinungen des Christentums zu registrieren und zu beanstanden. Doch stieß ich kürzlich auf ein Bändchen mit derart obskuren und hanebüchenen Einlassungen von Christenmenschen, Laien und Theologen, daß sie nicht unkommentiert und unwidersprochen bleiben können. Es handelt sich um Beiträge zum ersten Band der Jesus-Monographie Ratzingers: Ulrich Ruh (Hg.), Das Jesusbuch des Papstes – Die Debatte. Freiburg 2008.

Um gleich mit dem unqualifiziertesten Statement zu beginnen, der Chefredakteur einer katholischen Postille erklärt, er habe das Mysterium der Inkarnation „schon als Theologiestudent nie verstanden“, und er fragt, ob er es im Anschluß an die Bibelauslegung Ratzingers verstehen werde (S.150. Der Mann hat schlicht und einfach den Sinn von „Mysterium“ oder „Geheimnis“ nicht verstanden. Laut Wörterbuch ist ein Geheimnis „etwas, was nicht erkennbar und nicht erklärbar ist“. Soweit die allgemeine Bedeutung des Wortes. Was die Bedeutung der christlichen Mysterien angeht, so hat Rahner betont, daß sie nicht etwas sind, was noch nicht enthüllt ist, sondern wesentlich undurchschaubar und für immer unbegreiflich (K. Rahner, Grundkurs des Glaubens 1976, 215f.).

Dann vermißt der journalistische Zeitgenosse in dem Jesusbuch tatsächlich eine „mystische Lesart“, und er spricht von dem „großen Spiritualitätsboom der Gegenwart“, die möglicherweise eine „neue Phase der menschlichen Bewußtseinsentwicklung“ ankündige (S.152). Er plädiert also für ein mystisches, das heißt aber esoterisches Christentum, und meint, daß die Welle spiritueller Bücher dafür sprächen.

Mit dieser Erwartung steht der gute Mann aber allein, die meisten Kritiker wenden gerade gegen das Jesusbuch ein, daß darin die historisch-kritische Bibelexegese gegenüber der kanonischen, d.h. gläubigen Interpretation vernachlässigt werde.

Außerdem fehlt dem Mann jede sprachliche Sensibilität, sonst hätte er nicht die kaufmännisch-religiöse Wendung von dem "Spiritualitätsboom" gebraucht, ein Begriff, der jeden religiösen Sinn dementiert, aber insofern aufschlußreich ist, als er darauf hinweist, daß es bei der spirituellen Mode um eine oberflächliche Erscheinung geht, die allenfalls für den Buchmarkt interessant ist.

Freilich stimmt jenes Phänomen mit der Beobachtung eines anderen Artikels überein, daß die Kirche längst ein Teil des medialen Entertainments geworden sei: „Wir sind in Gefahr, das Christentum, unser wichtigstes geistiges Erbe zu zerreden“ – deshalb wird die Jesus-Monographie als heilsames Gegenmittel begrüßt (S.86.).

Natürlich kann in diesem modischen Chor der Meinungen zur christlichen Religion die Stimme der feministischen Bibelkritik nicht fehlen. Jedoch ist deren Einlassung nicht besonders informativ oder überzeugend. Eine Autorin geht von ihrer Erfahrung mit dem vorliegenden Buch aus, um sie dann umstandslos für die Erfahrung der Frauen im allgemeinen auszugeben. Das Plädoyer für „feministische Bibelsprachreformer“ kann allein deshalb nicht überzeugen, weil es nicht ausreichend begründet ist (S.37). Vor allem fehlt jede elementare Analyse des biblischen Sprachgebrauchs, der wörtlichen, der metaphorischen, der analogischen Rede.

Nach der Rede Benedikts in Regensburg über den militanten Islam war zu erwarten, daß dieses Thema auch hier wieder auftauchen werde. Es ist wiederum ein Journalist, der dem Autor vorwirft, er versage dem Islam „jeglichen Respekt“, und er hält dem Papst vor, daß er kein „Mea culpa“ spreche im Hinblick auf die „Verirrungen der christlichen Mission“ (S.46). Ein pauschaler Vorwurf, mit dem man nichts anfangen kann, ein Zug feuilletonistischer Halbbildung, ein wichtiges Thema anzuschneiden, ohne es genauer zu erklären oder zu belegen.

So kann man dazu nur sagen, daß es Fehlgriffe der Mission gegeben hat, wie die kürzlich bekannt gewordenen Mißhandlungen der einheimischen Kinder in Kanada. Doch läßt sich nicht abstreiten, daß in anderen Regionen mit der Mission nicht nur eine humane Ethik eingeführt wurde, sondern auch elementare Kulturtechniken, Hygiene und Medizin. Andererseits haben auch die Europäer von den Heilmethoden der Ureinwohner gelernt, von denen sie in Amerika die Kartoffel übernommen haben – sie verhinderte fortan Hungersnöte hierzulande.

Es ist wahr, daß die Spanier Mittelamerika mit extremer Grausamkeit erobert haben. Es ist aber auch wahr, daß es spanische Padres waren, die die Kultur der Maya aufgezeichnet und überliefert haben, Texte in der Mayassprachen mit lateinischen Buchstaben wiedergaben und ihre Gebräuche objektiv beschrieben, trotz ihrer ideologischen Gegnerschaft (Hans Helfritz, Amerika. Inka, Maya und Azteken. 1996, 198ff.). Nicht zu vergessen Las Casas (1474-1566), der sich für die Rechte und die Freiheit der Indianer eingesetzt hat (cf. J.Q., Christliche Literatur im 20. Jahrhundert: R. Schneider über Las Casas, S.44ff.).

Auch sollte man wissen, daß viele Missionare besonders bei schriftlosen Einwohnern auch wertvolle ethnologische Arbeit leisteten. Ohne ihre Aufzeichnungen wüßten wir nichts von Sprache und Kultur mancher untergegangener Stämme, siehe zum Beispiel: Anton Quack (Hg.), Das Wort der Alten. Erzählungen zur Geschichte der Pujuma von Katipol. (Taiwan). Gesammelt von P. Schröder und P. Veil (St. Augustin 1981). Den Fehlgriffen der Mission stehen also einige nicht zu unterschätzende kulturelle Verdienste gegenüber.

Unsinnig ist dagegen die Forderung, der Papst müsse ein Mea culpa (Meine Schuld) sprechen; denn man kann sich nur für die Taten entschuldigen, die man selbst begangen oder zugelassen hat. Dieses gedankenlose Entschuldigungsgetue von staatlichen oder kirchlichen Repräsentanten im Hinblick auf vergangene Verbrechen ist nichts anderes als „Versöhnungskitsch“ (cf. Polen und Deutsche). Die Kirche sollte sich in erster Linie um die Bewältigung ihrer Schwierigkeiten hier und heute kümmern und nicht den geforderten erbaulichen Erinnerungskult mitmachen. Wichtig ist, daß die Historiker diese Übel erforschen und dokumentieren, salbungsvolle Statements von seiten der Amtskirche befriedigen nur eine ebenso salbungsvolle Sentimentalität.

Zum Problem des Islam wäre noch zu sagen, daß Ratzinger mit seiner Regensburger Rede sachlich recht hatte, daß er jedoch die politische Reaktion auf diese Rede nicht erkannt und vorausgesehen hatte. Später hat er den sachlichen Kern seines Vorwurfs wiederholt und erklärt, „daß der Islam im öffentlichen Dialog zwei Fragen klären muß, nämlich die Fragen seines Verhältnisses zur Gewalt und zur Vernunft“ (Benedikt XVI., Licht der Welt 2010, 124). Bis heute ist keine dieser Frage beantwortet, im Gegenteil, mit der Entstehung des Islamischen Staates ist das Problem der religiös motivierten Gewalt erst recht eigentlich virulent geworden.

Die Stimmen, die Ratzinger wegen seiner Islamkritik heute noch kritisieren, verschließen die Augen vor der politischen Realität. Außerdem sind sie weit von der Einstellung der Aufklärung entfernt, die jede Religion einer vernünftigen Kritik unterzieht – siehe nur den scharfen Spott Voltaires in diesem Punkt. Schließlich sind jene Papstkritiker inkonsequent, insofern sie jede Kritik fremder Religionen verurteilen, selbst aber das Christentum und seine Kirchen munter kritisieren, was ich keineswegs ablehne. Nur meine ich, daß auch der Islam, Buddhismus und Hinduismus genügend Anlaß zur schärfsten Kritik bieten (cf. Thomas v. A. über den Islam).

Und was schreibt Schopenhauer über den Koran? "Dieses schlechte Buch war hinreichend, eine Weltreligion zu begründen [...] die Grundlage der Moral zahlloser Millionen Menschen und einer bedeutenden Verachtung des Todes zu werden, wie auch zu blutigen Kriegen und den ausgedehntesten Eroberungen zu begeistern. Wir finden in ihm die traurigste und ärmste Gestalt des Theismus. [...] ich habe keinen einzigen wertvollen Gedanken darin entdecken können." (Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 17) Im Vergleich zu diesem vernichtenden Urteil eines Aufklärers war Ratzingers Urteil über den Islam doch recht akademisch und vornehm zurückhaltend. Freilich ist es mit der Bildung mancher Ratzinger-Gegner oft nicht weit her.

Soweit meine Einwände gegen die feuilletonistischen Aufsätze jenes Bandes, für die es typisch ist, daß sie an sich oft mit der Jesus-Monographie Ratzingers gar nichts zu tun haben. Dem wäre noch hinzuzufügen, daß ein Theologe auf einer Seite zehnmal den göttlichen Namen verwendet – sein Statement geht in reines Geplapper über, auch dies ein typisch feuilletonistischer Zug (S.169).

Zur Diskussion über die historisch-kritische Bibelexegese und die kanonische Auslegung der Bibel möchte ich nur sagen, daß diese Methoden im einzelnen hier viel zu oberflächlich behandelt werden. Es wird nicht genügend beachtet, daß die historisch-kritische Methode, ähnlich wie die Goethe-Philologie, die Methode einer empirischen Wissenschaft ist, die, wie nicht zuletzt Max Weber klargestellt hat, kein Heilswissen oder keine ethische, keine existentielle Orientierung vermitteln kann (Wissenschaft als Beruf, 1919). Dies bleibt der kanonischen Interpretation vorbehalten, die aber den Glauben voraussetzt. Außerdem wird zu wenig in Rechnung gestellt, daß die Ergebnisse der historisch-kritischen Methode hypothetischer Art, Vermutungswissen, sind, das jederzeit korrigiert und überholt werden kann.

Ratzinger ist an der zweiten Methode interessiert, und dies heißt, seine Intention hängt von einer Entscheidung ab, so wie auch die Tätigkeit der historisch-kritischen Exegeten auf einer Entscheidung beruht. Dieser prinzipielle Gegensatz der Methoden wäre zu diskutieren, bevor man Ratzingers Ergebnisse im konkreten bemängelt. Es wäre zu untersuchen, ob und wie sich die Option für die natürliche oder profane Vernunft von der Option für den christlichen Glauben unterscheidet. Zudem wäre zu beachten, daß nach thomistischer Ansicht, die Probleme zuerst im Licht der natürlichen Vernunft zu behandeln wären, bevor man den Glauben in Anspruch nimmt.

Übrigens stammt der Ausdruck „religiös unmusikalisch“ von Max Weber, nicht von Habermas, wie hier angenommen wird (S.43).

Dazu noch zwei Punkte. Wenn von wissenschaftlicher Theologie die Rede ist (S.147), müßte genau gesagt werden, was damit gemeint ist. Eine Disziplin, die einen religiösen Glauben voraussetzt, wird man gewöhnlich nicht eine Wissenschaft nennen können.

Zweitens, ein Exeget meint, daß eine bestimmte These Ratzingers über das Johannesevangelium der Meinung von „praktisch allen Autoritäten der Johannesforschung“ widerspreche (S.193). Das kann wohl doch nur heißen, daß er einen Konsensbegriff der Wahrheit voraussetzt, was aber seinerseits alles andere als ein allgemein anerkannter wissenschaftlicher Grundsatz ist. Dem steht die Anerkennung eines objektiven Wahrheitsbegriffs, der Übereinstimmungsbegriff der Wahrheit gegenüber, und es kann durchaus sein, daß ein einzelner Forscher gegenüber der ganzen Forschungsgemeinschaft recht hat. Im übrigen teilt der Exeget Klaus Berger die These Ratzingers (S.15).

Wenn an anderer Stelle beklagt wird, daß „die reiche Tradition deutscher Theologie ins Abseits geraten“ sei (S.95), so lassen sich auch in diesem Band selbst einige Beispiele einer wenig einladenden Fachtheologie finden. Ich halte es für überflüssig, eigens zu erwähnen, daß mancher Beitrag von dem nur zu bekannten deutschen Affekt gegen Ratzinger geprägt ist. Aber gegen Ressentiments kann man nicht rational argumentieren.

© J.Quack — 17. Sept. 2022


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