Josef Quack

Gelehrte Schaumschlägerei
Zu Michel Friedman, Harald Welzer: "Zeitenwende"




Man möchte unsere Epoche für besonders stupid halten, wenn man die Idole sieht. Wahrscheinlich ist’s aber immer so.

E. Jünger

Dieses Buch ist ein zeitgeschichtlicher Flop. Die Autoren kündigen 2020, als die Corona-Epidemie ausbrach, die politischen und gesellschaftlichen Folgen aber noch keineswegs abzuschätzen waren, vollmundig eine Zeitenwende an. Das Buch wurde zwei Jahre später zu Makulatur, als seine Diagnose durch das epochemachende, wirklich eine politische Wende herbeiführende Faktum des Ukraine-Krieges überholt wurde. Damit aber stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Schrift zu besprechen, die praktisch bei ihrem Erscheinen schon veraltet war. Auf diese Lage antworte ich mit einem Kompromiß: ich bespreche nicht das ganze Buch, sondern nur die ersten 45 Seiten, die ich gelesen habe. Denn an diesem Punkt stieß ich auf eine unüberwindliche Dummheit, die jedes Weiterlesen unmöglich machte und mich veranlaßte, das Buch dem Papierkorb zu übergeben.

Hier also ein paar sprachkritische Anmerkungen zu dem Anfang dieses Dialogs zweier Professoren, medialer Figuren, die laut Klappentext zu „den profiliertesten Intellektuellen des Landes“ gehören sollen. Adorno warnt in seiner informativen, für diese Kritik zuständigen „Theorie der Halbbildung“ davor, sich über Leute lustig zu machen, die Fremdwörter falsch gebrauchen. Er dachte natürlich an Menschen, die nicht die Chance hatten, sich in der Schule oder im Selbststudium die nötige Bildung anzueignen.

Anders steht es jedoch mit Autoren, die Kenntnisse vortäuschen, die sie nicht haben. So kann man durchaus über Thomas Mann spotten, daß er lateinische Sentenzen falsch zitiert, weil er eine Gelehrsamkeit in Anspruch nimmt, die er nun mal nicht hatte (cf. J.Q., Lesen um zu leben, S.84). Und man kann über die Redaktion der FAZ lästern, daß sie „authentisch“ (echt) mit „autochthon“ (eingeboren) verwechselt, weil es sich um ein bildungsbeflissenes Blatt handelt, das allerdings dem eigenen Anspruch immer weniger gerecht zu werden scheint (cf. J.Q., Das authentische Selbstbild, S.100).

Jene Verwechslung der griechischstämmigen Wörter hatte sich übrigens eine Pädagogik-Professorin geleistet. Nimmt man die sprachlichen Defizite der Autoren der angeblichen Zeitenwende, zwei Professoren, hinzu, dann muß man annehmen, daß nicht mal mehr unsere Hochschulen in der Lage sind, klassische Bildung zu vermitteln.

In dem Gemeinschaftsprodukt Friedmans und Welzers stößt man also auf neue Wortprägungen wie „prä-coronastisch“ und schiefe Metaphern wie „Erwartungsbruch“ (S.13; 8). Dann liest man das pseudogelehrte Ungetüm von den „komplementären Rationalitätsanforderungen von Faktizität und Narrativität“ (S.12), die für eine Demokratie wesentlich sein sollten. Es ist eine Wortfolge, die sich nur schwer in normales Deutsch übersetzen läßt. Sie hat offensichtlich den einzigen Zweck, die angebliche Wissenschaftlichkeit der beiden Autoren zu belegen oder zu unterstreichen. Es wird mit dieser Wendung behauptet, daß Faktizität und Narrativität irgendwie vernünftig sein sollten und daß sie sich ergänzten. Faktizität bedeutet Tatsächlichkeit und mit Narrativität ist hier die Fähigkeit gemeint, Geschichten zu erzählen – was in mehrfacher Hinsicht schief oder falsch ist.

Denn Narrativität bezeichnet nicht einfach eine erzählerische Fähigkeit, sondern abstrakt Erzählbarkeit oder erzählerisches Wesen. Faktizität und Geschichtenerzählen sind keine unabhängigen Faktoren, die sich ergänzten, da Geschichten auch Fakten enthalten können. Dann werden die beiden Phänomene, um das Maß pseudowissenschaftlichen Geschwafels voll zu machen, auch noch als „Rationalitäten“ (Vernünftigkeiten) bezeichnet (S.14), was auf gut deutsch nur heißt, daß Tatsächlichkeit und die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, vernünftig seien; freilich soll es sich um zwei verschiedene Arten von Vernünftigkeit handeln. Wie man die Wörter auch dreht und wendet, sie ergeben keinen Sinn, und ich habe den nicht abzuweisenden Eindruck, daß die Autoren dieser Äußerungen selber nicht wissen, was sie meinen.

Friedman spricht von dem „Versprechen eines humanistisch-liberalen Staates“ (S.15), womit er zu erkennen gibt, daß ihm die Bedeutung von „humanistisch“ fremd ist, obwohl er sich seiner Bildung rühmt, die aber keineswegs humanistisch gewesen zu sein scheint. Denn dieses Wort ist ein Attribut für Bildung oder die Bildungsstätte wie in „humanistisches Gymnasium“. Hier wird Latein und Griechisch gelehrt und es werden die Ideale der Antike vermittelt. „Humanistisch“ leitet sich von Humanismus her, jener Geistesbewegung der Renaissance, wo die Gelehrten das Wissen der klassischen Antike wiederentdeckten und selbst weiterhin pflegten. Dies ist die einzige Bedeutung von „Humanismus“, die im Rechtschreibe-Duden nachgewiesen wird.

Doch gibt es noch eine allgemeinere Bedeutung des Wortes, die im Wahrig verzeichnet ist, nämlich Humanismus als „Menschlichkeit, Achtung der Menschenwürde“. Von diesem Begriff hat Friedman jenes Attribut wohl abgeleitet, nicht wissend, daß dies nicht der gebräuchliche Sinn von „humanistisch“ ist. "Humanismus" in diesem Sinn ist nämlich nicht das Substantiv zu dem Adjektiv "humanistisch", sondern zu "human".

Welzer steigert dann die Verwirrung um diese Wortgruppe noch um einige Grad, indem er von „humanitärer Grundhaltung“ spricht. „Humanitär“ aber heißt „menschenfreundlich“ im Sinne von „wohltätig“. So ist das Rote Kreuz eine humanitäre Einrichtung, woran wohl unser Autor kaum gedacht haben dürfte; jedoch ist eine humanitäre Katastrophe keine menschenfreundliche, sondern eine menschenfeindliche Katastrophe, nämlich ein Ereignis, das vielen Menschen schwer geschadet hat. Man sieht, daß der Gebrauch von Prädikaten und Attributen seine Tücken hat, die offensichtlich nicht mal unsere profiliertesten Intellektuellen beherrschen.

Welzer behauptet in seinem miserablen Deutsch, „das mit der Freiheit“ sei ihm „ein bißchen zu Friedrich-Schiller-mäßig idealistisch“ (S.44). Damit verrät er, daß ihm nicht bekannt ist, daß Schillers politischer und ethischer Idealismus sich an der Philosophie Kants orientiert, die man nicht einfach mit einer Alltagsphrase erledigen kann. Auch kennt der Professor anscheinend das großartige, nüchtern realistische Epigramm über die „Würde des Menschen“ nicht:

Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen,
Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.

Bei Friedman liest man dann von einem „demokratiefeindlichen Content im Netz“. „Content“ aber heißt auf deutsch „Informationsgehalt“; demnach soll es sich also um demokratiefeindliche Informationen handeln. Dies aber hat der Sprecher doch wohl kaum gemeint, er denkt vielmehr an Meinungsäußerungen im Netz, nicht an Meldungen von Tatsachen. Freilich hat er das falsche Wort gewählt, was doch wohl etwas peinlich für einen Professor ist, der sich zugutehält, gut deutsch sprechen zu können.

In einem weiteren Statement klagt er über das Internet, das es den sozialen Medien ermöglicht, schädliche Meinungen und Propaganda zu verbreiten. Daß aber das Internet wie jedes Medium auch mißbraucht werden kann, ist ein Gemeinplatz, den selbst Nicht-Intellektuelle verstehen können.

Das Argument Friedmans, in den sozialen Medien fehle der Journalismus, der die Informationen kritisch sichten und bewerten sollte, ist keineswegs stichhaltig (S.32). Denn im Internet wird ja schließlich auch Online-Journalismus angeboten und, was hier an Kommentar und Meinungsäußerung zur Politik zu lesen ist, unterscheidet sich in der Substanz nicht im geringsten von den flotten, unüberlegten oder parteilichen Äußerungen irgendwelcher Privatpersonen. Friedman idealisiert den tatsächlich ausgeübten Journalismus, der alles andere als klug, sachlich und zuverlässig ist. Pressekritik scheint für ihn ein unbekannter Begriff zu sein.

Der Anwalt der Demokratie scheint den unglaublichen Vorteil des Internets nicht zu sehen, daß es ein echtes demokratisches Medium ist: es gestattet es jederman, auf diesem Forum seine Meinung zu sagen. Damit unterscheidet es sich grundlegend von den herkömmlichen Medien, besonders aber von dem quasistaatlichen Öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der von den politischen Parteien kontrolliert wird. Das Internet, das es jedem Menschen ermöglicht, öffentlich als Autor aufzutreten, kommt jenem Ideal der allen zugänglichen Öffentlichkeit sehr nahe, von dem die literarische Avantgarde der Weimarer Jahre geträumt hat.

Schließlich stieß ich auf die Bemerkung Welzers: „Digitale Technologie ist eigentlich strunzdumm“, und: „Digitale Technologie ist in dem Sinne eine abhängige Technologie, daß sie immer externe Stromzufuhr braucht“ (S.45). Als ich diese trivialste Binsenweisheit, die ein Einwand gegen die digitale Technik sein soll, las, habe ich das Buch zur Seite gelegt.

Abgesehen von dem Amerikanismus „Technologie“ für die einfache „Technik“, ist der Einwand einfach töricht. Die technische Intelligenz, der wissenschaftliche Erfindungsgeist, die unglaubliche Leistungsfähigkeit digitaler Programme und Anwendungen werden schlicht und einfach ignoriert bei einem Einwand, der für die gesamte Industrie, den Bahnverkehr, für Telephon, Radio, Fernsehen und Presse, für die Zentralheizung, die Beleuchtung, alle Haushaltsgeräte gilt.

Als ich diese unsägliche Dummheit in dem Buch der angeblich profiliertesten Intellektuellen unseres Landes las, verging mir auch die geringste Lust, weiterzulesen. Sie reden von einem „Angriff auf Demokratie und Menschenwürde“ in einem Idiom, das geistverlassener nicht sein könnte. Sie sprechen und schwatzen, als wüßten sie nicht, daß zur Achtung der Menschenwürde auch gehört, daß man eine allgemeinverständliche, menschenfreundliche Sprache spricht.

Die beiden Autoren treten als Praeceptores germaniae, Lehrer Deutschlands, auf, sie zeigen durch ihr schulmeisterliches Getue und ihre moralische Überheblichkeit, daß sie sich zu einer gesellschaftlichen Elite zu rechnen scheinen – nichts aber ist in einer demokratischen Gesellschaft, einer Gesellschaft von mündigen Bürgern, fragwürdiger als das Selbstverständnis von Intellektuellen, Elite zu sein (cf. J.Q., Über das Ethos von Intellektuellen).

Ich glaube, es war Walter Dirks, einst Herausgeber der Frankfurter Hefte, der Demokratie, wörtlich: Herrschaft des Volkes, einmal treffend mit „Herrschaft der Laien“ übersetzt hat. Also sollte man sich demokratisch über Politik in einer Form verständigen, die auch Laien verstehen können. Auf diesen naheliegenden Gedanken sind unsere wackeren Verteidiger und Theoretiker der Demokratie und Menschenwürde allerdings nicht gekommen. Mit anderen Worten, sie haben gewöhnlichen Menschen, nämlich Lesern mit gesundem Menschenverstand, nichts zu sagen.

J.Q. — 19. Nov. 2022

© J.Quack


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