Josef Quack

Gemeinschaft, die deutsche Ideologie




Wo alle einer Meinung sind, geht man am besten gleich freiwillig ins Irrenhaus.

E. Jünger

Die Empörung der kompakten politischen Majorität über die Demonstration neulich vor dem Reichstag gegen die repressive Corona-Politik des Staates belegt ein weiteres Mal, daß die Ideologie der Gemeinschaft die bevorzugte politische Doktrin der Deutschen ist. Die Mehrheitsparteien legen dem Bürger im Namen der Gesundheit der Volksgemeinschaft Beschränkungen der Lebensweise in nie gekanntem Ausmaß auf. Die wachsenden Proteste dagegen zeigen, daß es den Regierenden nicht gelungen ist, glaubwürdig zu begründen, daß jene Maßnahmen aus guten Gründen auch im Interesse des Einzelnen gerechtfertigt sein könnten. Und was vielleicht noch schlimmer ist, immer wieder treten Menschen öffentlich als Blockwarte auf, um das vorschriftsmäßige Verhalten ihrer Mitmenschen zu überwachen. Der Typus des Denunzianten und Belehrers scheint unsterblich zu sein.

Wie weit sind wir damit von den hehren Idealen des Neubeginns nach dem Krieg entfernt! Als es damals darum ging, eine neue staatliche Ordnung im westlichen Deutschland einzuführen, erklärte Walter Hallstein, es müsse das Ziel einer menschlichen Politik sein, möglichst viele gesellschaftliche Räume zu schaffen, die von Politik frei seien. Dies war als Antwort auf den Terror des Hitler-Regimes gedacht, das praktisch alle Lebensbereiche politisch besetzt und kontrolliert hatte. Die Maßnahmen der Corona-Politik folgen nicht der klugen Lehre Hallsteins, wonach dem Einzelnen das Primat vor der Gesellschaft zukommt, sondern der Ideologie der Gemeinschaft, die dem Kollektiv den ersten Rang in der politisch-gesellschaftlichen Wertordnung zubilligt.

Diese Doktrin aber ist von alters her eine Ideologie der politischen Rechten, der Konservativen und Reaktionären, eine Einstellung, der fatalerweise allerdings auch das linke Kollektivdenken zustimmen kann, wie es derzeit leider der Fall ist. Kurios an jener Demonstration aber war, daß sich daran auch dezidiert rechte Gruppen, die AfD und rechtsextremistische Randgruppen, Nostalgiker des Dritten Reiches, beteiligten, die ja programmatisch der Ideologie der Volksgemeinschaft verpflichtet sind.

Nun, was die AfD angeht, so sind die Mehrheitsparteien an deren Verhalten größtenteils selber schuld. Sie haben die AfD vom normalen Politik-Betrieb ausgegrenzt. Als legale Partei steht ihr der Posten eines Vizepräsidenten im Bundestag zu, doch die Mehrheitsparteien begingen den Fehler, der schlimmer als eine Dummheit ist, ihnen diesen Posten zu verweigern. Damit haben sie aber nur bestätigt, was diese Partei von sich selbst behauptet: de facto die einzige funktionierende Opposition in dem jetzigen politischen System zu sein. Und deshalb ist es nur folgerichtig, daß sie jede Gelegenheit nutzt, um als einzige und wahre Opposition zum Juste Milieu der herrschenden Mehrheit aufzutreten.

Was die rechtsextremistischen Randgruppen betrifft, winzige Vereinigungen ohne nennenswerten Einfluß, so gehören sie schlicht und einfach zum Pluralismus einer offenen Gesellschaft, zum möglichst bunten Spektrum politischer Meinungen, und es wäre geradezu gleichsam unnatürlich, wenn es diese Gruppen und Meinungen nicht gäbe. Es würde ja heißen, daß es in der Bundesrepublik nur Parteien mit einem politischen Einheits-Programm der gemäßigten Mitte geben dürfte – was ja tatsächlich auch der Fall war. Siehe auch den unseligen Hang deutscher Politiker zu großen Koalitionen, dem schlechtesten politischen Kompromiß, den man sich denken kann.

Politischer, geistiger Konformismus ist der Fetisch der politisch-korrekten Mehrheitsmeinung, während die Intellektuellen sich im Nachkriegsdeutschland immer als Nonkonformisten, als Kritiker der öffentlichen Meinung verstanden. — Die allenthalben zu vernehmende Empörung über die Rechtsextremisten und NS-Nostalgiker kommt aus einem politischen Denken, das nur den Konsens, nicht jedoch den politischen Konflikt als erstrebenswert und gegeben anerkennen möchte.

Dagegen wäre es das einzig Richtige, die nationalistischen Gruppen, überhaupt die Menschen mit Meinungen, die von der politischen Korrektheit abweichen, nicht aus der öffentlichen Diskussion auszuschließen, sondern sich mit ihnen rational und argumentativ auseinanderzusetzen, ihr Geschichtsverständnis zu kritisieren und ihre Parolen zu widerlegen.

Wie man hört, werden statt dessen an den Universitäten keine Redner zugelassen, die nicht die politisch richtige Mehrheitsmeinung teilen. Mir scheint, daß man hier den gleichen Fehler macht wie in den frühen dreißiger Jahren. Damals klagte der Publizist Herbert Jhering darüber, daß es falsch von der linken Intelligenz und den Wortführern der demokratischen Linken war, die Diskussion mit der rechten Intelligenz grundsätzlich zu verweigern.

Ganz unverständlich ist mir, daß auch die Kirchen durchaus im Sinne der Gemeinschafts- und politischen Konsens-Ideologie zu handeln scheinen, heißt es doch, daß sie Leute von der AfD von den Kirchentagen ausschließen würden. Ich dachte immer, nach christlicher Lehre seien alle Menschen Sünder und die Kirche habe die Aufgabe, sich um alle Menschen zu kümmern und nicht, wie eine Sekte, die beati possidentes, die auserwählten Heilsbesitzer, zu bevorzugen. Diese Vertreter des Verbandschristentums brauchen sich dann nicht zu wundern, daß sie praktisch keinen gesellschaftlichen Einfluß haben.

Zuletzt wurde gemeldet, daß der Mann, den ein dummer Zufall und politischer Unverstand zum Präsidenten dieses Landes machte, die Absicht habe, eine staatliche Trauerfeier für die Opfer der Corona-Krankheit zu organisieren. Wenn ich Leitartikler wäre, würde ich dem Manne raten, dies gefälligst bleiben zu lassen. Daß sich der Staat nun auch in die Trauer, die eine persönliche Sache des Einzelnen ist, einmischen will, ist wirklich unerhört und ein Beleg für den verderblichen Einfluß der Gemeinschaftsideologie. Aber die regierenden Figuren auf der politischen Bühne sind nun mal unbelehrbar.

Es ist mehr als grotesk. Der Mann, der einst vom Kanzleramt aus die Agenda 2010, den stärksten Sozialabbau in der Geschichte der Bundesrepublik, managte und der dann wegen seiner falschen Anschuldigungen gegen die Regierung Kohl bei dessen Staatsbegräbnis persona non grata, d.h. unerwünscht war, will nun eine öffentlliche Trauer inszenieren. Und diesen Irrwitz nennt man hierzulande politische Kultur! Nachbarin, Euren Speikübel!

Im übrigen wäre auch daran zu erinnern, daß es eine riesige, milliardenschwere Institution des Medienbetriebs hierzulande gibt, die sozusagen die reine Verkörperung der deutschen Gemeinschaftsideologie an sich ist, der öffentlich rechtliche, durch Zwangsabgaben finanzierte und von Politikern kontrollierte Rundfunk. Um mit Voltaire zu reden: Écrasez l‘infâme, d.h. privatisiert das Ding.

Der Historiker Fritz Stern hat seinerzeit eine kluge Untersuchung darüber angestellt, warum der Nationalsozialismus überhaupt für denkende Menschen eine Versuchung sein konnte. Heute wäre dringend eine Untersuchung erwünscht, die erklärte, warum die antiliberale Doktrin vom Primat des Gemeinschaftsinteresses die von der Mehrheit der Deutschen wiederum bevorzugte Ideologie sein kann.

J.Q. 6. Sept. 2020

©J. Quack


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