Josef Quack

Christliche Restbestände





Es gibt Dinge, die ich nicht missen möchte, die ich eine Ewigkeit mit Genuß aushalten könnte. Dazu gehört die „Betglocke“ am Abend.

Th. Haecker

In meiner kleinen Schrift über die Christliche Literatur im 20. Jahrhundert“ (2014) habe ich gefragt, warum es heute – im Unterschied zur Mitte des letzten Jahrhunderts – denn keine nennenswerte christliche Literatur mehr gebe. Als Antwort habe ich zwei Gründe angegeben, einen literarischen und einen religiösen, gemäß der Doppelnatur der christlichen Dichtung. Erstens gibt es derzeit überhaupt keine künstlerisch oder gesellschaftlich bedeutende Literatur mehr, infolgedessen auch keine christliche Literatur. Zweitens erleben wir nur zu sichtbar den selbstverschuldeten Niedergang des Christentums in den säkularen Gesellschaften Europas. Als Hauptgrund für diesen Prozeß aber habe ich die Beobachtung angeführt: „Der Sinn für das Sakrale ist verlorengegangen“ (S.130).

Dieses Argument fand ich nun in der Geschichte der Philosophie (2022) von Jürgen Habermas vielfach bestätigt. Er beschreibt die Geschichte der Beziehung zwischen Vernunft und Glauben und kommt zu dem Ergebnis, daß eine Religion nur überleben kann, wenn sie kultisch praktiziert wird: „Ohne dieses Proprium hätte sich die Religion nicht bis heute eigensinnig gegenüber dem säkularen Denken behaupten können“ (1,180). Anders gesagt, eine religiöse Lehre, mag sie begrifflich noch so intelligent verfaßt sein, ist auf „die Bestätigung durch die praktizierten, das heißt im Kultus ihrer Gemeinden verwurzelten Glaubensüberzeugungen angewiesen“ (2,700).

Daß die Bedeutung des Sakralen bei uns nicht mehr erkannt oder empfunden wird, zeigt sich unüberhörbar gegen Weihnachten, wenn Lieder aus der christlichen Folklore häufig zu hören sind, Texte, die fraglos christliche Gedanken wiedergeben. So etwa auch das „Vater unser“, das Gebet als Schlager, oder das Lied „Sankt Niklas war ein Seemann“, das in der letzten Strophe Sankt Niklas um Schutz bittet und mit der Bitte endet: „ora pro nobis“.

Wie kann man sich gegenüber solchen Texten verhalten? Nun, man soll keinen Illusionen anhängen, sondern nüchtern zugeben, daß die meisten Hörer sich gar nichts dabei denken, sondern die Melodie wahrnehmen und sich allenfalls verschwommenen Gefühlen hingeben. Sie werden die Lieder als reine Unterhaltung auffassen, ohne auf den zweifellos vorhandenen religiösen Sinn überhaupt zu achten. Wenige andere werden diese Lieder als echte Gebete in einem Unterhaltungsprogramm auffassen und sie als solche begrüßen. Dann wird es vielleicht einige wenige Hörer geben, die in diesen Texten eine Profanierung des Religiösen sehen. Wer dagegen religiös indifferent ist, wird christlich getönte Lieder in Unterhaltungssendungen als geschmacklos ablehnen.

Bemerkenswert an diesen Reaktionsweisen ist also, daß wohl die meisten Hörer sich die Lieder als schöne Melodien einfach, unüberlegt, gefallen lassen, ohne ihren sakralen Charakter überhaupt wahrzunehmen – sie haben dafür keinen Sinn mehr. Die Nichtgläubigen aber sind allergisch gegen alles fromme Getue in der Öffentlichkeit. In ihrer Ablehnung nehmen sie die Dinge der Religion gewiß ernster als die Namenschristen.

Ein weiteres und wohl überzeugenderes Beispiel dafür, daß im Christentum der Sinn für das Sakrale nicht mehr besonders lebendig ist, ist das Verhalten der fünf oder zehn Prozent Katholiken, die noch regelmäßig die Kirche besuchen. Sie verhalten sich vielfach so, als wäre die Kirche eine Bahnhofshalle oder ein Konzertsaal: sie klatschen nach einer Predigt, die ihnen gefallen hat, und spenden den Referenten Beifall, wenn sie von ihren meist banalen Tätigkeiten berichten. Die Fürbitten sind nicht selten eine Sammlung von trivialen Wünschen, seinerzeit hat schon Graham Greene über Fürbitten für Astronauten gespottet. Meßfeiern lassen sich oft nicht mehr von Kindergeburtstagen unterscheiden. Die Pfarrer gestalten die Messe nach ihrem Gutdünken, präsentieren statt einer Predigt einen Lichtbildervortrag über einen Künstler oder unterweisen die Zuhörer in Atemübungen, wenn sie nicht simple psychologische Rezepte als spirituelle Weisheiten verkaufen. Schon Kardinal Ratzinger hat einst die Priester scharf kritisiert, die als „Showmaster“ auftreten, um etwas Besonderes anzubieten (Salz der Erde. 1997, 187).

Dies alles widerspricht der Bestimmung Nr. 22 der konziliaren Konstitution über die Liturgie „Sacrosantum Concilium“, daß nur die Autorität der Kirche in Sachen der Liturgie das Ordnungsrecht hat: „Deshalb darf durchaus niemand sonst, auch wenn er Priester wäre, nach eigenem Gutdünken in der Liturgie etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern.“

Religionshistorisch leitet sich der Begriff des Sakralen von einem geheiligten oder geweihten Ort her, und so ist es interessant zu erfahren, was Thomas von Aquin auf die Frage antwortet, „ob die Anbetung einen bestimmten Ort erfordert“, d.h. ob es nach christlichem Verständnis überhaupt Kirchen als sakrale Orte geben sollte.

Er zitiert das Bibelwort: "Mein Haus wird ein Haus des Gebetes genannt", und erklärt zunächst, daß „die Anbetung hauptsächlich in der inneren Andacht des Geistes besteht“, für die ein bestimmter, festgelegter Ort nicht notwendig ist. Zweitens aber verweist er auf Formen der Anbetung, die an körperliche, sinnliche Zeichen gebunden sind, und hier ist es eine Frage einer gewissen Schicklichkeit (secundum quamdam decentiam), daß dafür ein bestimmter Ort erforderlich ist. Konkret hat man dabei an die Sakramente zu denken, die an festgelegten Orten gespendet werden sollten.

Im einzelnen führt er dann aus: „Ein bestimmter Ort wird zum Anbeten gewählt nur wegen der Beter selbst; und dies aus drei Gründen: erstens sicher wegen der Weihe des Ortes, aus der die Betenden eine besondere Andacht empfangen, damit sie eher erhört werden, wie aus dem Gebet Salomons bei der Einweihung des Tempels hervorgeht; zweitens wegen der heiligen Geheimnissen und der anderen Zeichen der Heiligkeit, die hier verwahrt werden; drittens wegen der Zusammenkunft vieler Beter, weswegen das Gebet wertvoller ist, d.h. eher erhört wird, nach Matth. 18,20: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, dort bin ich mitten unter ihnen.“ Mit den „heiligen Geheimnissen“ ist vor allem die Messe gemeint, die hier gefeiert wird. (Summa theologiae II-II, quaestio 84, articulus 3).

In früheren Jahren war man sich dieser sakralen Eigenheit des durch eine Weihe ausgezeichneten Kirchenraumes noch durchaus bewußt, wie besonders deutlich aus der folgenden Kontroverse hervorgeht. Als in den 50er Jahren das Fernsehen eingeführt wurde, kam es zu einer lebhaften Diskussion über die Frage, ob es zulässig sei, eine Messe im Fernsehen zu übertragen. Nicht wenige sahen darin eine unerlaubte Profanierung, weil sie annahmen, daß die Meßfeier von ihrem Wesen her an den Ort der Feier gebunden sei. Inzwischen hat sich längst die Auffassung durchgesetzt, daß Fernsehübertragungen kirchlicher Veranstaltungen durchaus sinnvoll und erlaubt seien.

Freilich sollte man den kaum zu leugnenden Kollateralschaden dieses Brauches nicht außerachtlassen, die damit verbundene Aushöhlung der Idee des Sakralen. Sie zeigt sich besonders drastisch in der Übertragung der vom Papst auf seinen Reisen gefeierten Messe, die wie die gesamte Reklamefahrt des Papstes tatsächlich nur noch als Medienereignis betrachtet wird.

Im übrigen ist evident, daß die Lässigkeit und Formlosigkeit im Verhalten des liturgischen Personals mit dem Verbot der lateinischen Messe und der Einführung der Volkssprache in die kirchlichen Feiern aufgekommen sind. Die beteiligten Kleriker und Laien lassen es bei dem liturgischen Dienst an jener Dezenz, der Schicklichkeit oder dem Anstand, gegenüber den Zeichen der Anbetung fehlen, von der bei Thomas die Rede ist. Anders gesagt, es ist eine Frage des Taktes, wie man sich in der Kirche verhält.

Wenn also das Überleben des Christentums als Religion davon abhängt, ob die Christen wieder ein Verständnis des Sakralen und eine dementsprechende Praxis im Umgang mit dem Heiligen entwickeln und ausüben, stellt sich die Frage, ob in unseren Breiten vom Christentum mehr übrigbleiben wird als eine christlich gefärbte Folklore, so wie wir sie alle Jahre wieder in der Weihnachtszeit erleben.

Zu diesem Problem findet sich bei Hans-Georg Gadamer eine interessante Überlegung. Er fragt, wie man sich das Problem des Übergangs von Welt und Nachwelt vorzustellen hat. Wann wird aus der Welt gewohnter Vorstellungen, Überzeugungen und Lebensformen eine veraltete, historische Welt, der eine Welt neuer Gesinnungen und Lebenseinstellungen folgt? Konkret fragt er, wie wir uns den Übergang der antiken Geisteswelt zur modernen Nachwelt zu denken haben.

Dazu entwickelt er in seiner hermeneutischen Philosophie die folgende, ganz unerwartete These: „Es sollte zugestanden werden, daß etwa ein antikes Götterbild, das nicht als Kunstwerk für einen ästhetischen Reflexionsgenuß im Tempel seine Aufstellung fand und heute in einem modernen Museum seine Aufstellung hat, die Welt der religiösen Erfahrung, der es entstammt, so wie es heute vor uns steht, enthält, und das hat die bedeutende Folge, daß diese seine Welt auch noch zu unserer Welt gehört. Es ist das hermeneutische Universum, das beide umfaßt.“ (Wahrheit und Methode 1965, XVII)

Mit dem „hermeneutischen Universum“ ist die Welt der Dinge, Ereignisse und Ideen gemeint, deren Sinn wir im Prinzip verstehen können. Auf die christliche Geisteswelt angewandt, bedeutet Gadamers Überlegung, daß die Welt der christlichen Erfahrung auch dann noch zu unserer Welt gehören würde, wenn die christlichen Statuen, Gemälden und Kirchen uns nur noch soviel bedeuten würden wie heute eine antike Statue. Das heißt, wir könnten die christliche Religion im Prinzip auch dann noch verstehen, wenn sie nicht mehr praktiziert würde.

Zweifellos ein schwacher Trost. Die Frage, die die derzeitige Schwundstufe des Christentums nahelegt, um seinen gegenwärtigen Zustand redlich und unmißverständlich zu bezeichnen, ist jedoch die, ob es eine hoffnungsvollere Form des Überlebens geben könnte. Von einem adventistischen Geist ist aber nichts zu spüren, Zeichen einer radikalen Erneuerung sind derzeit nirgends zu sehen.

J.Q. — 12. Dez. 2022

© J.Quack


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