Josef Quack

Menschenopfer, unerhört
Rußlands Fehlkalkulation





Nulla salus bello, pacem te poscimus omnes!
Kein Heil ist im Krieg, dich, Frieden, ersehnen wir alle!

Vergil

Was die Berichterstattung über den Ukrainekrieg angeht, so besteht das Hauptproblem darin, daß sich die Beobachter kein klares, objektives Bild über das Kriegsgeschehen machen können. Alle Informationen der kriegführenden Parteien dienen den politisch-militärischen Zielen dieser Parteien, ihre Angaben lassen sich nicht objektiv überprüfen, sie sind meist reine Propaganda. Uneingeschränkt gültig ist das Sprichwort, daß die Wahrheit im Krieg das erste Opfer ist.

Übrigens waren die mir bekannten Prognosen und Einschätzungen der sogenannten Militärexperten, die im Frühjahr mit ihrem Fachwissen in den Medien hausieren gingen, alle falsch. Und was die veröffentlichten Erkenntnisse der Geheimdienste angeht, so sollte man sich bewußt sein, daß eine ihre Aufgaben die gezielte Desinformation ist.

So muß man auch die Meldungen dieser Tage über die Kriegsverluste mit der größten Vorsicht auffassen. Im ZDF heißt es: „Genaue Angaben zu den Verlusten der russischen und ukrainischen Streitkräfte machen beide Seiten aus Sicherheitsgründen nicht. Westliche Militärs haben jedoch zuletzt die Zahl der getöteten und verwundeten russischen Soldaten auf weit über 100.000 geschätzt.“ Ein Berater des ukrainischen Präsidenten soll „vor kurzem die Zahl der ukrainischen Gefallenen mit 13.000“ angegeben haben.

Das Mißverhältnis der russischen und ukrainischen Verluste könnte kaum größer sein. Wenn es denn wahr wäre, was freilich höchst zweifelhaft ist, würde es bedeuten, daß die ukrainische Armee der russischen Invasionsarmee militärisch hoch überlegen wäre. Außerdem bieten sich die folgenden Vergleiche an. Wenn die russischen Verluste wirklich 100.000 Soldaten betragen, erinnert dieses Fiasko an die „Strafaktion“, die die Volksrepublik China im Februar 1979 gegen Vietnam durchgeführt hat. Innerhalb des siebzehn Tage dauernden Krieges sind von den 200.000 chinesischen Soldaten 30.000 gefallen, eine bittere Lehre für die Chinesen, die allerdings nur bestrafen, nicht erobern oder besetzen wollten (P. Scholl-Latour, Koloß auf tönernen Füßen. 2006, 282).

Anders sieht dagegen der Vergleich mit dem amerikanischen Vietnam-Krieg aus. In dem zehn Jahre dauernden Kampf hatten die Amerikaner zeitweise 540.000 Soldaten in Südvietnam; davon sind in dieser Zeit ca. 50.000 gefallen. Die Amerikaner haben ihre Soldaten nach Möglichkeit geschont: „Im Durchschnitt hat allenfalls einer von zwanzig US-Soldaten tatsächlich Feindberührung gehabt. Stets besaß die US-Army die erdrückende materielle Überlegenheit.“ (Scholl-Latour, Der Tod im Reisfeld. Dreißig Jahre Krieg in Indochina. 1981, 159)

Wenn es denn stimmt, daß tatsächlich die russische Invasionsarmee in zehn Monaten an die hunderttausend Mann durch Tod oder Verwundung eingebüßt hat, dann wirft dies das grellste Licht auf die unzulängliche Kriegskunst und strategische Führung Rußlands. Immer vorausgesetzt, daß jene Annahmen wahr sind: Daß ein Land oder ein Regime so zynisch mit dem Leben seiner Soldaten umgeht, macht dieses Land oder sein Regime ja nicht gerade attraktiv. Es ist aber für den demokratischen Westen kaum zu verstehen, daß eine Regierung sich so wenig um die Weltmeinung, sein Ansehen in der Welt kümmert wie Rußland. Das liegt natürlich daran, daß es autoritär regiert wird.

Dagegen leuchtet es unmittelbar ein, daß die Kampfmoral einer Truppe nicht besonders hoch sein kann, wenn die Kämpfer wissen, daß ihr Leben in der Kalkulation der Kommandanten nicht viel wert ist. Hatte die russische Armee in der Tradition nicht den üblen Ruf, daß ihre Rekruten menschenverachtender, grausamer Behandlung ausgesetzt waren? Siehe etwa die analoge Behandlung in der NVA, die Uwe Tellkamp in seinem Turm schildert.

Vor allem aber kann man fragen, ob Rußland die jetzigen Gewinne seiner kriegerischen, ungewöhnlich verlustreichen Aktion nicht auch mit unmilitärischen, nämlich diplomatischen Mitteln hätte erreichen können. Warum hat Rußland vor 2014, als es die Krim eroberte, auf der internationalen Bühne nicht das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung, seit dem Ersten Weltkrieg ein zentraler Grundsatz des Völkerrechts, auf die Tagesordnung gesetzt und gefordert, daß auf der Krim und in der Ostukraine Abstimmungen über die russische oder ukrainische Zugehörigkeit durchgeführt würden, selbstverständlich unter Aufsicht und Kontrolle der Vereinten Nationen?

Da 70 Prozent der Einwohner der Krim Russen sind und nur 20 Prozent Ukrainer, wäre hier die Abstimmung höchstwahrscheinlich zugunsten Rußlands ausgefallen. Auch in der Ostukraine, die mehrheitlich von Russen bewohnt wird, standen die Chancen nicht schlecht, daß das Votum der Bevölkerung für das östliche Reich ausgefallen wäre. Warum hat aber Rußland den barbarischen Weg der brutalen Machtpolitik gewählt und nicht den besseren und zivilisierteren Weg einer klugen Diplomatie im Sinne des allseits anerkannten Völkerrechts?

Man wird da allenfalls Vermutungen anstellen und in der Geschichte des Landes nach Anhaltspunkten für seine Mentalität und politische Einstellung suchen können. In seinem Buch über das „Wesen der Außenpolitik“ kommt Henry Kissinger zu dem historischen Fazit: „Ein Paradox war Rußlands wohl bezeichnendster politischer Zug: Immer in Kriege verwickelt und nach allen Seiten expandierend, fühlte es sich gleichwohl unausgesetzt bedroht.“ (Die Vernunft der Nationen 1994, 147).

Dann macht der erfahrene Politiker eine Voraussage, die sich inzwischen leider bewahrheitet hat. Er schreibt 1994: „Auch die Vereinigten Staaten handelten weitsichtig, als sie Rußland nach dem Kalten Krieg Hilfe anboten. Dennoch wird Moskau sicherlich verstärkt Druck auf die benachbarten Länder ausüben, sobald es sich wirtschaftlich erholt hat. Mag sein, daß es sich lohnt, diesen Preis zu zahlen: Aber es wäre ein Fehler, nicht zu erkennen, daß ein Preis gezahlt werden muß.“ (S.294)

Zum Schluß seiner außenpolitischen Überlegungen spricht er sich dafür aus, daß Rußland in das internationale System integriert werden sollte. Es sollte auch für den Übergang Wirtschaftshilfe und technische Beratung erhalten. Einschränkend aber heißt es: „Verschließt man dagegen die Augen vor dem Wiederaufleben historischer russischer Reichsansprüche, wird man die russische Reform eher behindern als fördern. Die Unabhängigkeit der neuen Republiken, von den Vereinten Nationen anerkannt, darf nicht stillschweigend entwertet werden, indem man russisches Militär auf ihrem Territorium duldet.“ (S.910)

Nach diesem historischen Rückblick wird man nur bestätigen können, daß Rußlands kriegerischer Griff nach der Ukraine unmißverständlich zeigt, was man unter den russischen Reichsansprüchen zu verstehen hat. Gewiß wird damit die gegenwärtige Kriegspolitik des Landes nicht vollständig erklärt, jedoch wird fraglos ihr entscheidendes Motiv genannt. Auch wird damit eine Aufgabe für die Zukunft beschrieben: Wie man Rußland nach dem Ende dieses Krieges wieder in das System der internationalen Beziehungen integrieren kann, und zwar derart, daß es auf militärische Eskapaden möglichst verzichtet.

J.Q. — 24. Dez. 2022

© J. Quack


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