Josef Quack

Eine Art Emanzipation
"Betty"





Die Heldin dieses Romans, Betty (dt. Hansjürgen Wille, Barbara Klau. Köln 1962. Betty, 1960), der von Claude Chabrol verfilmt wurde, ist eine der profiliertesten Frauengestalten im Werk Simenons. Man würde dieser Figur aber nicht gerecht, wenn man sie mit Madame Bovary oder Effi Briest vergleichen würde, wie im Klappentext der deutschen Ausgabe geschehen. Die beiden Romane von Flaubert und Fontane glänzen ja nicht nur durch die Beschreibung seelischen Erlebens, sie sind auch breit angelegte Gesellschaftsromane über Sitte und Moral ihrer Epoche. Simenons Betty ist jedoch ein Kurzroman novellistischen Charakters, eine Studie über die existentielle Krise einer jungen Frau, die diese Phase überlebt, während Emma Bovary und Effi Briest zugrundegehen.

In den Intimen Memoiren berichtet Simenon, daß er diesen Roman geschrieben habe, weil er „die lästige Erinnerung an eine haltlose Frau“ von sich abschütteln wollte, die er in einer Bar in Versailles getroffen hatte. „Ich weiß nicht, welchem Schicksal sie entgegentrieb“. Die gutgestellte Frau hatte „in ihrem Bedürfnis nach Ablenkung“ ihren Mann und ihre Kinder verlassen und befand sich betrunken in einem Zustand, in dem ihr alles egal war. Simenon hat die Frau dann in ihrem Hotel abgeliefert. Ihren Namen hat er nie erfahren (Intime Memoiren Paris 1982, 649f.).

Betty gleicht dieser Frau nur darin, daß auch sie in einer Bar in Versailles gestrandet ist und sich in einem Zustand der Trunkenheit und des moralischen Elends befindet. Sie wurde nicht von einem Mann ins Hotel gebracht, sondern von einer fürsorglichen Frau, die sich auch weiter um sie kümmert. Auch hat sie ihre Familie nicht freiwillig verlassen, sondern gleichsam durch die Umstände gezwungen. Der Roman schildert das weitere Schicksal Bettys, während Simenon nicht wußte, was später mit jener Frau geschehen ist.

Mit anderen Worten, der Roman hat seine eigene Geschichte, die sich von dem zufälligen Anlaß, Simenons Begegnung mit jener Unbekannten, dann doch wesentlich unterscheidet. Der Roman ist eine Dichtung, ein Werk der Phantasie, das durch ein Erlebnis angeregt wurde, aber kein Bericht jenes flüchtigen Erlebnisses.

Das Buch sollte ursprünglich „Le cauchemar“ (Alptraum) heißen, und der Autor ist bei der Durchsicht „ziemlich zufrieden damit“, er zählt das Buch zu seinen gelungen Werken und bedauert sein schwaches Echo: „Betty erschien genau zum Zeitpunkt der Preise zum Jahresende und blieb unbeachtet. Das macht mir etwas zu schaffen, nicht meinetwegen, sondern, ich wollte schon schreiben, ihretwegen.“ (Als ich alt war. Dt. Linde Birk. Zürich 1977, 151; 157; 411).

Der ursprüngliche Titel bezieht sich auf die Szene, in der Betty und ihr Liebhaber von ihrem Mann überrascht werden. Sie empfindet diese demütigende Szene, wo sie ihre Schuld an der Scheidung bestätigen mußte, als „Alptraumwelt“ (S.105). Dann ist mit dem Titel auch die anschließende dreitägige Trinktour Bettys gemeint.

Simenons bevorzugtes Interesse als Romancier gilt, neben der suggestiven Schilderung der natürlichen und moralischen Atmosphäre, der Darstellung des geistigen Erlebens des Menschen. Er ist ein Meister in der Wiedergabe der Gedanken- und Gefühlswelt seiner Personen (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.15). In mehreren Romanen hat er verschiedene Zustände und Ereignisse des menschlichen Bewußtseins dargestellt. Das Kabinettstück in diesem Fach ist der Roman Die Glocken von Bicêtre, wo er das allmähliche Erwachen eines Menschen aus dem „Loch“ der Bewußtlosigkeit beschreibt, die Stadien der verwunderten Orientierung in einem Krankenhausbett (l.c. 147). In den Grünen Fensterläden wird das Verlöschen des Bewußtseins beim Sterben geschildert und in Schlußlichter die langsame Verengung des bewußten Erlebens beim Trinken (l.c. S.14f.).

Der vorliegende Roman aber setzt mit der Beschreibung des wirren und unkonzentrierten Bewußtseins einer betrunkenen Frau an, die die Ereignisse der Gegenwart nur noch selektiv wahrnimmt und mit Erinnerungsfetzen vermischt. Diesem Stadium folgt ein Schlaf mit einem Erwachen, wo sie zunächst Traum und Realität vermischt, bis sie zu klarem, beherrschtem Bewußtsein kommt und ihre neue Lebenslage in ihrem Sinne meistern kann. Damit dürfte die wirkungsvolle erzähltechnische Linie des Romans wenigstens angedeutet sein. Die Welt wird, bis auf einige signifikante Sätze des Erzählers, aus der Innenperspektive der Hauptperson wahrgenommen.

Elisabeth Etamble, 28 Jahre alt, ist mit Guy Etamble, einem Generalssohn aus Lyon, verheiratet. Sie hat zwei Töchter, die von einem Kindermädchen betreut werden, während der Haushalt in einer Pariser Villa von einer zweiten Angestellten besorgt wird. Hier wohnt sie zusammen mit ihrem Schwager, einem höheren Offizier, und dessen Frau. Betty, Tochter eines Drogisten, fühlt sich in der gehobenen Bürgerschicht der Familie nur als Mutter der Kinder, nicht als sie selbst geachtet. Sie hat zunächst ein Verhältnis mit einem altklugen Medizinstudenten, einem Freudianer, der sie dilettantisch analysiert, dann mit Philippe, einem jungen Saxophonisten. Eines Abends wird sie in ihrem Salon bei einem intimen Zusammensein mit Philippe von ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter überrascht. Sie verzichtet schriftlich auf ihre Mutterrechte und nimmt die Schuld für eine Scheidung auf sich. Sie verläßt das Haus, sucht vergeblich nach Philippe und wandert drei Tage und Nächte von Bar zu Bar, bis sie in Begleitung eines morphiumsüchtigen Arztes in dem Versailler Lokal „Das Loch“ landet, das von Mario geführt wird; es ist ein Treffpunkt von „Verschrobenen“, Sonderlingen aller Art. Soweit die Vorgeschichte der Erzählung, die später nach und nach eingeflochten wird.

Mit Bettys Ankunft in dieser Bar beginnt die Gegenwartshandlung. Schwer betrunken, wird sie von Laura Lavancher, 49 Jahre alt, einer Arztwitwe aus Lyon, die mit Mario liiert ist, in ein Hotel gebracht, wo Laura für sie sorgt und am nächsten Tag von einem Arzt untersuchen läßt. Auf Bettys Wunsch bringt man von Zuhause ihre Sachen, sie lehnt aber den Besuch des Anwalts ihres Mannes ab. Als Guy selbst nach Versailles kommt und ihr ein Arrangement vorschlägt, das ihre spätere Rückkehr vorsieht, besteht sie auf ihrer endgültigen Trennung. Sie will ein neues Leben anfangen, zunächst mit Mario, den sie zu einem Rendezvous empfängt. Als Laura dies erfährt, verläßt sie das Hotel. Eine Woche später liest die Mutter Guys in Lyon, daß man Frau Lavancher in ihrer Wohnung tot aufgefunden hat. Dazu der Kommentar des Erzählers: „Wie hätte die Generalin erraten können, daß Laura Lavancher im Grunde an Bettys Stelle gestorben war? / Die eine oder die andere mußte weichen. / Betty hatte gewonnen.“ (S.142)

Diese etwas rätselhaften Worte sollen wohl besagen, daß Laura es nicht ertragen konnte, daß Mario sich von ihr abgewandt und mit Betty liiert hat. Die Worte beziehen sich zudem auf Lauras früheres Bekenntnis der totalen Resignation: „Das Leben ist jetzt für mich vorüber, und ich habe das Gefühl, gar nicht mehr auf der Welt zu sein“ (S.37).

Bei diesem Roman fällt nun auf, daß Bettys Zustand des Elends genauer und überzeugender geschildert wird als ihre wieder gewonnene Zuversicht und die Hoffnung auf ein neues Leben.

Es ergibt sich, daß ihr Verhältnis zu Guy durch drei Faktoren belastet ist: durch den Standesunterschied zwischen der Generalsfamilie und der Drogeriefamilie, durch Bettys Mangel an Mutterliebe, der sie als „Ungeheuer“ erscheinen läßt (S.66; 71) und durch Guys laues Verhalten ihr gegenüber: Er kümmert sich nicht „um ihr Inneres, um den Menschen, der sie wirklich war“ (S.93). Bettys Unbehagen gegenüber der höheren Gesellschaftsschicht ihres Mannes äußert sich drastisch in dem von ihr gewollten Akt der Paarung mit Philippe in ihrem eigenen Haus: „Es war eine alte Abrechnung, weniger mit ihrem Mann als mit der Familie, als mit einer Welt, einer Lebens- und Denkart“ (S.103).

Es ist nicht die Trennung von der Familie, sondern die demütigenden Umstände und das grußlose Verschwinden Philippes sind es, die sie als „Katastrophe“ empfindet. Sie glaubt, „die tiefste Tiefe der Verzweiflung erreicht zu haben“ (S.26). Ihr „Drama“ und ihr „Ekel“ vor dem Dasein wird mit der bekannten Metapher für Sinnlosigkeit, „Leere“, beschrieben: „Sie sah nur eine Leere vor sich, und es war gleichgültig, ob sie hier war oder woanders.“ (S.36; 43) Sie sucht sich selbst zu entrinnen und will das Schicksal herausfordern (S.88; S.99). Sie muß dann aber feststellen: „Das Schicksal war nicht gerecht. … sie fühlte sich betrogen, als ob man ihr etwas gestohlen hätte, etwas, was ihr gehörte, als ob man ihr etwas gestohlen hätte, genau gesagt, Laura ihr etwas gestohlen hätte“. (S. 122)

Die Gedanken erinnern fast wörtlich an eine These des Existentialismus, die Simone de Beauvoir geprägt hatte: um das Leben betrogen werden. Trotz ihres Ruhms, ihres Erfolgs und ihrer Privilegien hat sie den Eindruck, "geprellt" worden zu sein (Der Lauf der Dinge. Reinbek 1970, 623). Betty wechselt allerdings sogleich von dem prinzipiellen Standpunkt zu einem persönlichen Standpunkt über, indem sie sagen will, daß sie Laura um ihre Liebesbeziehung zu Mario beneidet.

Die Wende ihres Bewußtseinszustandes vom Ekel zur Zuversicht wird in wenigen Sätzen beschrieben, daß sie sich getäuscht habe, am Ende zu sein: „Sie wußte da noch nicht, daß ihr noch das ‚Loch‘ blieb, daß ihr noch Mario blieb. Es verlangte sie zu leben. Sie brannte darauf zu leben.“ (S.137)

Das eigensinnige Verhalten dieser Romanfigur wird man nur richtig verstehen, wenn man klar erkennt, daß ihr Selbstverständnis als Frau von dem konventionellen Frauenbild der Tradition stark abweicht: „Frau sein bedeutete im Grund leiden, ein Opfer sein, und ich empfand das als traurig“ (S.80). Sie besteht dagegen darauf: „Ich bin kein Opfer. Ich bin nicht zu bedauern. Niemand hat mir Böses zugefügt. Ich habe vielmehr anderen Böses zugefügt.“ (S.82)

An diese Worte denkend, kann man annehmen, daß Betty die Erlebnisse dieser Krise und ihre Bewältigung als eine Art Emanzipation verstanden und empfunden hat.

J.Q. — 30. Jan. 2023

© J. Quack


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