Josef Quack

Brauchen wir Heideggerianer?




Man lasse die guten Kräfte in die Arena treten. Auf Stoß erfolgt Gegenstoß. Die Wahrheit läßt sich nicht im Monolog ermitteln.

A. Döblin

I.

Günter Figal schließt sein aktualisiertes Büchlein Heidegger zur Einführung (2016) mit dem sentenziösen Satz: „Heideggers Texte brauchen wache, kritische und selbständige Leser, keine Heideggerianer.“
Dieser These möchte ich entschieden widersprechen und zwar aus zwei Gründen. Erstens teile ich die Voraussetzung dieser Behauptung nicht. Figal nimmt offensichtlich als ausgemachte Wahrheit an, daß man kein wacher, kritischer und selbständiger Leser der Texte Heideggers und zugleich ein Heideggerianer sein könne, was keineswegs plausibel ist. Es durchaus denkbar, daß man die Texte eines Philosophen kritisch und selbständig liest und zu dem Ergebnis kommt, daß seine Texte den richtigen philosophischen Ansatz enthalten und, alles in allem, wahr sind. Dies ist nichts anderes als die geistige Grundlage der Bildung philosophischer Schulen: der Platoniker, Aristoteliker, Thomisten, Kantianer etc. Und selbstverständlich kann es auch sein, daß es Denker gibt, die Heideggers Philosophie für die richtige halten und in seinem Geiste philosophieren. Es ist ja durchaus möglich, daß man Heideggers Denkstil ohne seine persönlichen Ressentiments übernimmt und ohne, daß man sein politisches Fehlverhalten billigt.
Zweitens wäre es höchst unklug, eine Richtung prinzipiell aus dem philosophischen Diskurs auszuschließen, da wir nicht mit absoluter Gewißheit wissen können, ob eine philosophische Theorie wahr ist. In Wissenschaft und Philosophie muß man bekanntlich mit Karl Popper zwischen Wahrheit und Gewißheit scharf unterscheiden. Man muß sich bewußt sein, daß das philosophische Wissen, abgesehen von der Logik im engeren Sinne, Vermutungswissen oder hypothetisches Wissen ist und nach kritischer Prüfung revidiert werden kann. Außerdem erleichtert es die Kritik, wenn in einer Frage mehrere Alternativen vorliegen, die überprüft werden können. Des weiteren besteht eine philosophische Theorie ja nicht nur aus einer These, sondern aus einer Reihe von Aussagen und Argumenten, die alle analysiert werden können, da einzelne Annahmen wahr sein könnten, auch wenn die Theorie als ganze falsch ist.
Insofern es sich beim Philosophieren um die Klärung von Begriffen und Kategorien handelt, kommt noch ein Moment der Konvention ins Spiel, was nichts anderes bedeutet, als daß eine bestimmte Terminologie nicht die einzig mögliche ist, sondern andere Begriffssprachen und Denkweisen denkbar sind und diskutiert werden müssen. Es ist also nicht von vornherein, a priori, auszuschließen, daß eine andere Richtung des Denkens gegenüber meiner Meinung recht hat.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei betont, daß ich keineswegs einem philosophischen Relativismus das Wort rede. Wie angedeutet, lassen sich auch metaphysische, d.h. nicht-empirische Aussagen rational, wiederum im Sinne Poppers, diskutieren. Absolut sicher falsch sind kontradiktorische Aussagen, und absolut sicher wahr sind tautologische oder analytische Aussagen, wobei man beachten muß, daß es auch nichttriviale tautologische Aussagen gibt, also Aussagen, die unser Wissen erweitern. Typisch metaphysische, synthetische nicht-empirische Thesen werden aufgestellt, um ein bestimmtes Problem zu lösen, und deshalb kann man bei solchen Aussagen auch immer fragen, ob sie denn die richtige oder überzeugende Lösung für das angegebene Problem sind.
Im konkreten Fall von Heidegger kann es nur nützlich sein, wenn ein kundiger und überzeugter Vertreter seiner Philosophie seinerseits die kritischen Einwände gegen Heidegger überprüft und nachschaut, ob sie überhaupt die Intention des Meisters richtig erfaßt haben. Außerdem könnte gerade die Kompetenz eines im Sinne Heideggers denkenden Philosophen gefragt sein, wenn es um die Aufklärung dunkler Texte des Meisters geht, und dergleichen gibt es bekanntlich eine ganze Menge.

II.

Der Schwerpunkt der Einführung Figals liegt auf dem frühen Werk Heideggers, das in Sein und Zeit den Höhepunkt erreichte. Figal gibt einen Überblick über die ursprüngliche Gliederung dieses Werkes, das ein Fragment geblieben ist, und er zeigt, daß und warum die Analyse des Daseins, der menschlichen Existenzweise, sich am Ende als ungeeignet erweist, um auf dieser Grundlage die Leitfrage nach dem Sein als solchem adäquat zu verstehen, geschweige denn zu beantworten. Zu der eingehenden Interpretation von Sein und Zeit wird man aber sagen müssen, daß sie doch allzu einseitig ist. Figal behandelt das zentrale Thema, das existentielle Problem der eigentlichen Existenzweise des Menschen, das Thema, auf dem die außergewöhnliche Wirkung des Buches beruht, doch wohl allzu kursorisch.
Was die Parteinahme Heideggers für den Nationalsozialismus angeht, so hat Figal den Irrtum des Philosophen, daß der politischen Revolution der NS-Bewegung ein gleichfalls revolutionärer Neuanfang der Philosophie entsprechen könne, deutlich herausgearbeitet, wenngleich letztlich doch unklar bleibt, warum Heidegger überhaupt einer derartig schwindelhaften Illusion erliegen konnte.
Wenig überzeugend ist dagegen Figals im politischen Sinne verharmlosende Interpretation, die er von einem eigenwillig übersetzten Zitat aus Platon in der Rektoratsrede gibt. Der Satz lautet: τα μεγαλλα επισφαλη, was Heidegger übersetzt: „Alles Große steht im Sturm“. Figal räumt ein, daß die Übersetzung ungewöhnlich und frei sei, wörtlich müßte επισφαλης mit „zum Fallen vornüber geneigt“ oder mit „unsicher“ wiedergegeben werden: „Doch gerade dann ist zu fragen, ob Heidegger überhaupt etwas anderes sagt: Was ‚im Sturm‘ steht, ist ‚zum Fallen geneigt‘ und darin ‚unsicher‘ oder auch ‚gefährdet‘.“
Richtig an Figals Interpretation ist die wörtliche Bedeutung des fraglichen Adjektivs. Weniger plausibel ist die Meinung, daß alles, was im Sturm stehe, zum Fallen geneigt oder unsicher sei. Vor allem aber enthält der griechische Wortlaut nicht die geringste Konnotation des Sturms. Dies ist eine Zutat, die Heidegger in einer „stürmischen Zeit“, einer politisch bewegten Zeit, hinzufügte, wie Karl Löwith anmerkt, dem diese Unstimmigkeit zuerst aufgefallen ist.
Figal erwähnt hier Löwith ebenso wenig, wie er an anderer Stelle den Autor des Vergleichs mit der Leiter nennt, die man nach erlangter Einsicht weglegen müsse, nämlich Ludwig Wittgenstein. Und wenn er die Kritik an Heideggers falscher Übersetzung von ουσια (Wesen als Anwesenheit) bespricht, bezieht er sich stillschweigend auf Ernst Tugendhat. Dieses Verschweigen der Vordenker seines Wissens ist gewiß nicht die feine englische Art.
Übrigens hat Hannah Arendt die Sturm-Metapher in ihrer Laudatio auf den „heimlichen König im Reich des Denkens“ übernommen und expressis verbis auf Heideggers Philosophie angewandt (cf. J.Q., Wenn das Denken feiert, 2013, 34f.).
Bemerkenswert in der aktuellen Diskussion über Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus ist weiterhin, daß in der Debatte über die antisemitisch gefärbten Schwarzen Hefte eine nicht weniger skandalöse Provokation vergessen wurde. Gemeint ist die rühmende Aussage über den Nationalsozialismus in der Einführung in die Metaphysik (1953), wo Heidegger von der „inneren Wahrheit und Größe“ der NS-Bewegung spricht. Diese Bemerkung hat er unverändert aus der Vorlesung von 1935 übernommen; nach dem Krieg hat er jedoch eine verharmlosende Definition der NS-Philosophie hinzugefügt, worauf Rüdiger Safranski hingewiesen hat. Dieses Lob des Nationalsozialismus liest sich wie ein Hohn auf die Entnazifizierungsverfahren des Nachkriegs, denen er selbst ausgesetzt war. Dagegen erwähnt er in den Schwarzen Heften immerhin die Verbrechen Hitlers und seiner Bewegung.
Das Ganze betrachtet, kann man hervorheben, daß sich diese Einführung durch zwei Punkte auszeichnet. Erstens hat Figal klar herausgearbeitet, daß Heidegger in fundamentalen Fragen seiner Philosophie auf Gedanken des Aristoteles zurückgreift. Besonders aufschlußreich ist hier der Nachweis, daß der seltsame Begriff der Ekstase, den Heidegger auf die Zeiterfahrung anwendet, von Aristoteles stammt und durch den Kontext der griechischen Quelle erst richtig verständlich wird. Leider hat auch Figal die Unsitte übernommen, die griechischen Wörter in lateinischer Schrift wiederzugeben, was die Kundigen nur verwirrt und die Unkundigen nicht belehrt.
Der zweite Vorzug dieser Einführung besteht darin, daß Figal das sich signifikant verändernde Verhältnis Heideggers zur Religion, zum christlichen Glauben und zur religiösen Erfahrung von seinen Anfängen bis zum Spätwerk plausibel nachzeichnet. In der ersten Etappe bezieht Heidegger die Philosophie ausdrücklich auf die religiöse Erfahrung, in der Phase von Sein und Zeit versteht er die Philosophie per definitionem, nach ihrem Selbstverständnis, als atheistisch, als Gegenentwurf zur Theologie. Im Spätwerk begreift er die religiöse Frage wieder als eine genuin philosophische Frage, „indem er den Verzicht auf die Unmittelbarkeit religiöser Erfahrung mit ihrer Bewahrung in Einklang bringt“, wie Figal formuliert, und er belehrt seine Leser mit der überraschenden Deutung, daß „die Götter und der Gott für Heidegger Chiffren der Gewesenheit und der Zukunft“ seien.
Dazu wäre zu sagen, daß Chiffre eine von Karl Jaspers geprägte Metapher für einen begrifflich nicht beschreibbaren Gegenstand transzendenter Art ist. Jener Deutung zufolge müßte man nun annehmen, daß der späte Heidegger sich dem philosophischen Denkstil von Jaspers angenähert habe. In den berüchtigten Schwarzen Heften spottet er über Jaspers' vage Rede von der Transzendenz — und nun muß man feststellen, daß auch seine eigene Rede über Transzendenz, die Götter, vage ist. Daß die Rede über das "Seyn" unbestimmt und rätselhaft ist, wußte man schon immer. Daran hat auch Figals Erklärung nichts ändern können. — Informativ für Heideggers Zeitdiagnose ist jedoch der Hinweis, daß er sein Verständnis vor allem in der Auseinandersetzung mit Ernst Jüngers Studie über den Arbeiter gewonnen hat.
Schließlich sei noch vermerkt, daß diese Einführung in Heideggers Philosophie ein brauchbares Literaturverzeichnis enthält, und, was besonders hilfreich ist, eine Übersicht über die Gesamtausgabe, eine Aufzählung der Titel der einzelnen Bände dieses Riesenwerkes, das Figal treffend als "gigantischen Torso" bezeichnet hat.

J.Q. — 21. März 2018

© J. Quack


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