Josef Quack

Exzellente Augenblicke des Films





In einem graugrünen Weizenfeld leuchtet rot ein Fleck mit einem Dutzend Klatschmohne. So kann man sich bildlich vorstellen, was mit dem exzellenten Augenblick eines Films gemeint ist. Ein Wort, eine Geste, ein Bild, eine Szene, die aus der Ereignisfolge hervorstechen und dem ganzen Geschehen einen einzigartigen Akzent aufdrücken. Sie sind so etwas wie der Ausdruck der geistigen oder stimmungsmäßigen Quintessenz des Films, keineswegs der Höhepunkt, die Pointe oder der Clou der Handlung, sondern eher ein pointierter Kommentar des Geschehens, ein sinnvoller Ausklang der Handlung.

Der Sinn eines filmischen Augenblicks hängt aber nicht von seiner zeitlichen Dauer ab, sondern von der Qualität der Darstellung, je nach den Umständen von der Intensität oder der Beiläufigkeit der Darstellung.

♦ Das klassische Beispiel für einen exzellenten Augenblick im Film ist die Schlußszene von Casablanca. Michael Curtiz hatte den Spielfilm 1943 ohne besondere Ambitionen in wenigen Wochen routiniert gedreht. Es wurde aber einer der wunderbarsten Filme von Hollywood und ist bis heute einer der höchstrangigen Streifen geblieben, die je produziert wurden. Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann spielen eines der seltenen glaubwürdigen Liebespaare im Film; Peter Lorre, Claude Rains und Sydney Greenstreet sind markante Mitspieler, und was durchaus selten in den üblichen Leinwandprodukten jener Epoche ist, die Musik des Films, „As time goes by“, hat in der Handlung einen tragenden Sinn.

In der Schlußszene hat also Rick, Humphrey Bogart, den deutschen Major Strasser, der das Flugzeug mit dem Untergrundkämpfer Viktor Laslo, aufhalten will, im Beisein des Polizeipräfekten Louis, Claude Rains, erschossen. Louis läßt aber nicht Rick, sondern die „üblichen Verdächtigen“ verhaften. Danach verlassen beide die Szene und Rick sagt: „Louis, ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“. Dieser Ausspruch, der die menschliche Atmosphäre der politisch brisanten Konstellation jener Jahre, die menschlich selbstverständliche Gegnerschaft gegen den Nationalsozialismus auf den Begriff bringt, wurde wie man weiß, eher zufällig bei den Dreharbeiten hinzugefügt, aus einer glückliche Eingebung heraus.

♦ Ganz anders die Schlußszene und das Schlußwort in der Spur des Falken, 1941 von John Husten. Die Polizisten führen die habituelle Lügnerin (Mary Astor) ab, die den Partner Sam Spades (Humphrey Bogart) ermordet hat. Spade nimmt die bleierne Figur des Falken vom Tisch und antwortet auf die Frage des Inspektors, was das ist, mit dem Shakespeare-Zitat: „Ein Stoff, aus dem man Träume macht“. Gewiß ein prägnantes Wort, das den Sinn der ganzen verzwickten Handlung auf den Punkt bringt. Es ist in gewisser Weise unübertrefflich, aber doch nicht so brillant und einprägsam wie der Schlußsatz von Casablanca und dies gerade deshalb, weil es ein Satz der Bildung und als Zitat konventionell, nicht originell ist.

♦ Dem kontrastiert wiederum das Ende der Zeugin der Anklage, von Billy Wilder 1957. Leonhard Vole (Tyrone Power) wird dank einer geschickten Lügengeschichte seiner Frau Christine (Marlene Dietrich), einer ehemaligen Schauspielerin, von der Anklage, seine Bekannte ermordet zu haben, frei gesprochen. Als Vole sich seiner jungen Freundin zuwendet und Christine, die gar nicht seine gesetzliche Frau ist, zurückweist, wird er von ihr mit einem Messer getötet. Die Pflegerin des Anwalts Winfried Roberts (Charles Laughton) stellt den Tod Voles fest und sagt zu dem Anwalt: „Sie hat ihn erstochen“. Darauf der Anwalt, mit dem Zeigefinger der rechten Hand verneinend: „Erstochen? Sie hat ihn gerichtet!“ Und er übernimmt die Verteidigung der Frau. Eine unscheinbare Geste und ein gewichtiges Urteil mit einem entscheidenden Wort, das den wahren Sinn des ganzen Geschehens zum Ausdruck bringt. Fraglos ein Moment höchster Filmkunst, aber in einem recht zweifelhaften dramatischen Kontext.

Denn leider muß man feststellen, daß diese Geste in einer Situation ausführt wird, die psychologisch einigermaßen unglaubwürdig ist. Zwei Frauen, die junge Freundin Voles und seine angebliche Frau, streiten sich leidenschaftlich um einen Mann, der eine andere Frau ermordet hat. Sie lieben ohne jeden moralischen Skrupel, ohne jede emotionale Reserve, leidenschaftlich einen Mörder – so will es das Drehbuch, das einem Theaterstück von Agatha Christie folgt. Man vergleiche damit den unsäglichen Ekel, mit sich Spade von der ihn angeblich liebenden Frau abwendet, die seinen Partner ermordet hat.

An diesem Manko erkennt man übrigens, daß die Romane und Stücke Christies nicht zur ernstzunehmenden Literatur gehören. Sie gehören zu dem Genre der nichts als unterhaltlichen Detektivromane, bei denen es um die Lösung komplizierter, aber belangloser Rätsel geht, im Grunde um akademische Denksportaufgaben, deren psychologische Glaubwürdigkeit völlig nebensächlich ist. Anders dagegen die harten, literarisch bedeutsamen Kriminalromane Dashiell Hammetts, von dem der Malteser Falke stammt. Sie wollen eine lebensechte Wirklichkeit wiedergeben, keine Kreuzworträtsel aufgeben (cf. J.Q., Die Grenzen des Menschlichen, S.18ff.). In der Zeugin der Anklage geht es aber um nichts anderes als um das taktische Problem, wie Christine sich verhalten muß, damit ihr Zeugnis unglaubwürdig wirkt und Vole nicht mehr belasten kann.

Daß wir es dennoch mit einem großartigen Film zu tun haben, liegt natürlich an der schauspielerischen Leistung Charles Laughtons, der hier übrigens recht liebenswert Churchill parodiert, und an Marlene Dietrich, die einige glänzende Auftritte hat wie nur wenige Filmstars ihrer Zeit.

♦ Besagter Geste des Films kann man nun in einem Streifen wiederbegegnen, wo man es nicht vermutet hätte, in dem fragwürdigen Thriller Heat (1995) von Michael Mann, einem sensationellen Machwerk übertriebener Leidenschaften und exzessiver Gewalt, das aber dennoch inmitten etlicher mehr oder weniger motivierter Krawallszenen einen stillen Augenblick aufweist, der eine menschliche Geste zeigt. Die Frau eines jungen Gangsters (Val Kilmer) wird von der Polizei gezwungen, den Typ zu identifizieren, der ihr Mann ist. Als ihr Mann vor ihrem Fenster auftaucht, macht sie ihm, den Zeigefinger bewegend, ein negatives Zeichen. Er versteht es und kann sich aus der Falle unbehelligt retten. Den Polizisten gegenüber verneint sie jene Frage.

Was an dieser Szene so beeindruckt, ist gerade der Kontrast zu den exzessiven Schießereien, skrupellosen Tötungen und wahnwitzigen Verfolgungen, den Ehekrisen und familiären Tragödien. Ein unerwarteter Moment der sprechenden Stille in einer überlauten Gewaltorgie.

♦ Ganz ähnlich wirkt der Schluß eines spannenden Entführungsfilms, wo auf zwei Stunden tödlichster Spannung ein gewöhnliches Wort der Entspannung folgt, das aber wie eine Erlösung wirkt, unerwartet und doch jedem wie selbstverständlich vorkommend. Einsame Entscheidung (1999) heißt der Film von Stuart Baird mit Kurt Russell als Geheimagent, der mit einer Spezialtruppe in ein von Arabern entführtes Flugzeug heimlich einsteigt, um die Kofferbombe zu entschärfen und die Terroristen auszuschalten. Das gefährliche Manöver der Agenten gelingt mit größter Anstrengung. Nach einer gelungenen Bruchlandung sagt der Ingenieur, der die Bombe unter höchster Nervenbelastung entschärft hatte, leise zu Kurt Russell: „Jetzt brauche ich einen großen Drink“ — die menschlichste Auskunft, die man sich in dieser Lage denken kann, ein Wort der Erleichterung am Ende eines beachtlichen Thrillers.

♦ Nur zwei oder drei Sekunden dauert die schönste Szene am Ende des Krimis The score von Frank Oz, ein Gangsterfilm mit Nick, Robert de Niro, einem Meisterdieb, und Marlon Brando, seinem von der Mafia bedrängten Hehler. Nick gelingt der Einbruch in das Zollamt von Montreal und der Diebstahl eines wertvollen Szepters. In der Schlußszene sieht man den beleibten Marlon Brando vor dem Fernseher. Als die Meldung kommt, daß der Helfershelfer Nicks bekannt sei und polizeilich verfolgt werde, ein zweiter Mann, gemeint ist Nick, aber unerkannt entkommen konnte, geht ein leichtes Lächeln über das Gesicht Brandos, der sparsamste Ausdruck der Zufriedenheit, wie ihn nur echte Profis sich leisten können. Ich jedenfalls kann Brandos Auftritt in diesem Thriller nur bewundern. So sehr ich auch Robert de Niro schätze, er verfügt doch nicht über den Reichtum spielerischer Nuancen, den Brando kennt und auch hier mehrfach improvisierend zeigt.

♦ Einen Augenblick schönsten Kontrastes findet man wiederum in der Flic Story (1975) von Jacques Deray, meines Erachtens der beste Film mit Alain Delon, ein Meisterwerk des filmischen Realismus. Es geht darin um die Verfolgung des mörderischen Diebes Emile Buisson (Jean-Louis Trintignant), die von Inspektor Roger Borniche (Alain Delon) geleitet wird. Die Geschichte spielt Ende der 1940er Jahre, es handelt sich also um einen historischen Film, der die Alltagswelt mit den Autotypen, den Möbeln, Einrichtungen, Kleidern jener Jahre zeigt. Obwohl man dies weiß, hat man doch den Eindruck der echten Wirklichkeit, wie kaum in einem anderen Film. Nach meiner Einschätzung kommt dies daher, daß die gewöhnliche, alltägliche, gebrauchte und abgenutzte Welt gezeigt wird und nicht die künstliche Welt, die supermodernen Interieurs oder die stilisierte Schäbigkeit, wie in den Filmen Jean-Pierre Melvilles, der gerade nichts Alltägliches zeigen will.

Vor allem ist die Besetzung ausnahmslos aller Rollen vortrefflich, die Frauen vor allem geben sich so gewöhnlich, wie gewöhnliche Frauen sind. Ein Landrestaurant wird von einem Wirtspaar geführt, das echter nicht aussehen könnte: die kräftige Frau mittleren Alters in dunklem Kleid und dunkler Strickweste, eine altmodische Benzinpumpe bedienend, der untersetzte Wirt, die Spezialität seiner Küche anpreisend, die rechteckige Porzellanschüssel mit der Pastete servierend.

Nachdem mehrere Überfälle und willkürliche Morde Buissons gezeigt worden waren, kommt Borniche mit seiner Frau und zwei Kollegen als Gäste in jenes Restaurant, um den Verbrecher zu überrumpeln. Während Buisson sich ihr stattliches Auto ansieht und dann in das Lokal kommt, spielt die Frau des Inspektors auf dem Klavier das Lied von Edith Piat „La vie en rose“ (das rosige Leben) — der schärfste Gegensatz, den man sich zu der tödlichen Spannung der Situation vorstellen kann. Authentischer als mit diesem Lied ließe sich die Sehnsuchts-Stimmung jener Nachkriegsjahre wohl kaum wiedergeben, ein seltenes Beispiel gelungener Einheit von Musik und Film.

In meinen Augen ist es ein Höhepunkt des französischen Gangsterfilms. Der Eindruck des dokumentarischen Realismus geht sicher auch darauf zurück, daß das Drehbuch auf einer wahren Geschichte beruht. Delon agiert hier nicht als Filmstar, sondern als ein großer Schauspieler, der besonders im Dialog mit seinem Vorgesetzten unnachahmlich brilliert.

♦ So sehr ich auch die beschriebenen Filmszenen mag und bewundere, die beste Szene dieser Art scheint mir doch ein Kurzdialog in Fred Zinnemanns Schakal (1973) zu sein. In diesem dokumentarisch angelegtem Streifen geht es darum, wie die Sicherheitsbehörden Englands und Frankreichs, das von dem „Schakal“ geplante Attentat auf de Gaulle verhindern können.

In Paris führt Kommissar Claude Lebel (Michel Lonsdale) die Ermittlungen, für die er fast unbeschränkte Vollmacht besitzt. Als er feststellen muß, daß der Schakal über den Kenntnisstand der Polizei immer Bescheid zu wissen scheint, läßt er die Telefone überwachen. In einer Lagebesprechung beim Innenminister mit allen Chefs der Polizei und Nachrichtendienste spielt er einen Tonbandabschnitt vor und erklärt dazu: „Bedauerlicherweise kam diese Information aus diesem Raum“. Ein Oberst des Elysee-Palastes gesteht, daß die Stimme auf dem Band die Stimme seiner Freundin gewesen sei, und verläßt den Raum. Nach dem Ende der Sitzung fragt der Minister, bevor er zur Tür hinausgeht, noch: „Kommissar Lebel. Woher wußten Sie, welches Telefon Sie anzapfen mußten?“ Darauf Lebel: „Ich wußte es nicht. Ich habe alle angezapft.“ Daß man ihr Telefon abgehört hat, verschlägt den versammelten Sicherheitsbeamten die Sprache und verblüfft fallen sie für Sekunden alle in eine Schockstarre. Ich habe übrigens die Erfahrung gemacht, daß die Zuschauer genau so verblüfft sind.

Ein singulärer Augenblick der mir bekannten Filmgeschichte. Der Schock der Überwacher, die selbst überwacht werden, ist großartig inszeniert, gerade deshalb, weil der Augenblick nicht in Zeitlupe ausgedehnt, sondern nur sekundenlang gezeigt wird. Übrigens wird der Moment der Verblüffung in der Vorlage des Films, in Frederick Forsyths gleichnamigen Roman (1971, dt. 1990, S.462), nicht explizit dargestellt. Der aufmerksame Leser muß ihn sich hinzudenken. Während sonst die Romanvorlagen gewöhnlich subtiler und nuancenreicher sind als die nach ihnen gedrehten Filme, ist es in diesem Punkt hier umgekehrt. Der Film ist um eine entscheidende Sinnuance reicher als der Roman.

♦ Einen vergleichbaren Moment der Verblüffung, wenn auch um einige Grad weniger stark, findet man schließlich in dem routinierten Politthriller I wie Ikarus von Henri Verneuil (1979). Der Generalstaatsanwalt Henri Volney (Yves Montand) untersucht mit seinen Mitarbeitern die Hintergründe eines Attentats auf den Staatspräsidenten. Verdächtigt wird der Einzelgänger Karl-Eric Daslow, den man auf dem Dach eines nahen Hochhauses tot aufgefunden hat. In dem von Volney bezweifelten Abschlußbericht des Untersuchungskomitees wird Daslow als psychisch krank bezeichnet. Dagegen fragt Volney in einer lebhaften Diskussion, ob Daslow den Präsidenten getötet habe, weil er verrückt gewesen sei, oder wurde er für verrückt erklärt, weil er den Präsidenten ermordet hat. Ein Mitarbeiter macht darauf aufmerksam, daß es ein psychiatrisches Gutachten von einem Professor Nagara über Daslow gebe. Volney, auf das Telefon tippend: „Verbinden Sie mich mit diesem Professor“. Darauf der Mitarbeiter: „Aber es ist vier Uhr morgens, Monsieur“. Volney schaut konsterniert auf und schickt seine Mitarbeiter schlafen.

Die Angabe der Urzeit beendet mit einem Schlag die Untersuchung, die so leidenschaftlich geführt wurde, daß der Staatsanwalt und seine jungen Helfer die Stunden vergessen hatten. Daß der Film diese Zeitvergessenheit und ihr abruptes Ende glaubhaft darstellen konnte, ist nicht der geringste seiner Vorzüge. Im übrigen lebt er von der großartigen Präsenz Yves Montands.

Der Film enthält eine geistreiche Deutung des Mythos von Ikarus, der im Flug abstürzte, weil das Wachs seiner Flügel in der Nähe der Sonne zu schmelzen begann. Die Sonne wird als Bild der Wahrheit verstanden. Das heißt: Ikarus mußte deshalb sterben, weil er sich zu sehr der Wahrheit genähert hatte. Demnach bedeutet das Codewort, daß auch Volney sterben muß, weil er die Wahrheit des Komplotts erkannt hat.

J.Q. — 5. Juli 2021

©J.Quack


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