Josef Quack

„Ja, aber“, „Sowohl als vielleicht auch“, „juxta modum“
Karl Lehmann im Rückblick




Dieser Tage fiel mir ein Gesprächsbändchen von Karl Lehmann (1936-2018) in die Hände: Es ist Zeit, an Gott zu denken. Ein Gespräch mit Jürgen Hoeren (2000). Er war von 1983 bis 2016 Bischof von Mainz, von 1987 bis 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, als solcher höchster Repräsentant, Sprecher und Geist des Deutschen Katholizismus, insofern er mit dessen Hauptströmung, dem Verbands- und Vereinswesen, eines Sinnes war. Er wird als Autor vieler Publikationen vorgestellt – eine Vita von ihm enthält über dreißig Buchtitel. Doch hat er kein Werk hinterlassen, das man mit Ratzingers Einführung in das Christentum oder Rahners Grundkurs des Glaubens vergleichen könnte, obwohl er als Philosoph ebenso kompetent war wie als Theologe. Neben Ratzinger dürfte er wohl der gelehrteste Bischof im Deutschland des letzten Jahrhunderts gewesen sein.

Nebenbei bemerkt, es war Ratzinger, der durch ein Gutachten dafür sorgte, daß seine römischen Doktortitel in Deutschland anerkannt und er in Mainz Professor werden konnte. Ratzingers Buch aber bestimmte sein eigenes Schicksal. Er sagt von Karol Wojtila: "Er hatte meine Einführung in das Christentum (1968) gelesen. Das war für ihn offenbar eine wichtige Lektüre. Gleich als er Papst wurde, hat er sich vorgenommen, mich als Präfekten der Glaubenskongreation nach Rom zu berufen." (Licht der Welt 2010, 19)

Von Lehmann aber ist kein Werk dieser Art in Erinnerung geblieben, sondern seine unverwechselbare Reibeisen-Stimme und seine unentschiedenen, dilatorischen Statements zur Frage, ob die katholische Kirche an dem staatlichen Beratungssystem für Schwangere teilnehmen dürfe. Er meinte, die Bistümer sollten darauf nicht verzichten, weil sie dadurch die Chance hätten, Abtreibungen zu verhindern. Dagegen stand die Meinung, daß die Kirche prinzipiell nicht an einem Beratungssystem teilnehmen und damit Bescheinigungen ausstellen dürfe, die unter Umständen die Abtreibung erlaubten. Dies war denn auch das Argument für das Verbot Roms, dem Lehmann sich schließlich auch fügte, sonst wäre er sicher nicht Kardinal geworden.

Durch sein Verhalten und sein Votum, das er wohl auch rhetorisch nicht gut verständlich machen konnte, kam er in der größeren Öffentlichkeit in den Ruf, ein unentschlossener, nachgiebiger Taktierer zu sein.

Nach seinem Verständnis aber hat er durchaus vernünftig gehandelt, betont er doch ausdrücklich, daß der Begriff der Vernunft auch das Moment der Vermittlung enthalte, nämlich eine differenzierte Betrachtung der umstrittenen Dinge in der Absicht, zu einem Konsens zu kommen (S.189). Trotz jenes Rückschlags in der Beratungsaffäre machte er als langjähriger Vorsitzender der Bischofskonferenz zweifellos eine bessere Figur als sein Nachfolger, Kardinal Marx, der dadurch im Gedächtnis geblieben ist, daß er bei einem Besuch des Tempelbergs in Jerusalem sein Brustkreuz wegsteckte.

Die Gespräche zeigen die stupende Gelehrsamkeit Lehmanns, aber auch sein gelegentlich etwas ungenaues, schwebendes Denken und seine eher kraftlose Rhetorik. Er weiß buchstäblich alles, wonach er gefragt wird, und bei jeder Frage wägt er das Für und Wider ab, betrachtet alle Gesichtspunkte, relativiert die Gegenmeinung und manchmal auch seine eigene Meinung. Er macht praktisch zu jedem Thema, öffentliche Kultausübung, Diakonat der Frauen, massenhafter Kommunionempfang, zeitgenössischer Atheismus u.s.w. eine Literaturangabe, wo man sich gründlicher informieren kann.

Für seinen etwas unentschiedenen Denkstil seien nur zwei kleine Zitat angeführt. Er schreibt, die Kirche dürfe keinen Zweifel daran lassen, „daß sie in einem ganz hohen Maße uneingeschränkt für das Lebensrecht eines jeden eintritt“ (S.37). Nun, wer für etwas uneingeschränkt eintritt, tut es im höchsten Maße, nicht nur in einem ganz hohen Maße. Dann spricht er davon, daß etwas „eindeutiger“ entschieden werden müsse (S.42). Nun, man kann etwas eindeutig entscheiden und man kann etwas nicht eindeutig entscheiden, man kann aber etwas nicht mehr oder weniger eindeutig entscheiden. Der Komparativ ist hier nicht am Platz.

Es ist aber gar keine Frage, daß er die richtige Einsicht in das drängendste Problem des Christentums heute hat. Er weiß, daß es der Unglaube der Neuzeit ist, die religiöse Indifferenz der Masse und ein weit verbreiteter Atheismus. Er betont, daß letztlich der mangelnde Glaube, nicht das Zölibat die Ursache für den Priestermangel in modernen Gesellschaften ist. Er räumt ein, daß heute die „Grundlagen des Christseins“ nicht mehr vorhanden sind (S.77), und weist auf die eigenen Versäumnisse hin: „Wir haben gerade auch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht selten eine Weltsüchtigkeit kultiviert oder wenigstens sich entwickeln lassen, die vom Glauben her vielfach unwahr gewesen ist.“ (S. 25) Er wendet sich aber auch gegen eine „Idealisierung der Vergangenheit“, gegen das Klischee von den religiös bestimmten fünfziger Jahren. Dem hält er entgegen, daß es nach dem Krieg viele Kirchenaustritte gegeben habe (S.20).

Freilich kommt er nicht zu der Einsicht, daß der Niedergang der Kirche in erheblichem Maße selbstverschuldet sein könnte, wie es Heinrich Böll in seinem Roman Wo warst du, Adam (1951) vermutet. Der Held der Geschichte meint, „er könne nicht in die Kirche gehen, weil die Predigten der meisten Priester unerträglich seien“ - was heißen soll, daß die Pfarrer die Kirche leer gepredigt hätten (cf. J.Q. Zur christlichen Literatur im zwanzigsten Jahrhundert, S.64).

Immerhin stellt Lehmann nüchtern fest: „Ich glaube, daß seit Bonifatius nie so viele Nichtchristen unter uns gelebt haben“ (S.117). Bonifatius war übrigens der erste Bischof von Mainz. Obwohl Lehmann also alles weiß, obwohl er ausdrücklich erklärt, daß angesichts der elementaren Glaubensfrage viele andere Themen zweit- und drittrangig sind, spricht er doch, befragt und ermuntert von dem Interviewer, einem typischen Vertreter der gängigen Meinung, die meiste Zeit über diese drittrangigen Sachen, die mit der Krise des Christentums und der Kirche allenfalls nur peripher etwas zu tun haben: Zölibat, Priestertum oder Diakonat der Frauen, Homosexualität, pränatale Diagnostik, Eheprobleme, Theologische Fakultäten an den staatlichen Universitäten, Kirchensteuer, das Sozialwort der Kirchen, kirchliche Strukturen u.s.w.

Schließlich sei eine aktuell gebliebene, aber durchaus fragwürdige Erklärung Lehmanns erwähnt, die nicht unwidersprochen bleiben kann. Ich habe nämlich diese Glosse nur wegen dieses Statements geschrieben, in dem wiederum Lehmanns unentschiedenes, ungenaues Denken zum Ausdruck kommt.

Nach der Schuld der Kirche im Dritten Reich gefragt, antwortet er: „Ich wäre vorsichtig, hier sofort mit der Kategorie ‚Schuld‘ zu arbeiten. Man sollte von ihr eigentlich nur Gebrauch machen, wenn es sich um eine klar zuzuordnende Verantwortung handelt, die sich eindeutig auf einen Einzelnen oder auch auf eine Gruppe bezieht. Wir haben ja immer alle noch so subtilen Formen von ‚Kollektivschuld‘ abgelehnt. Aber es gibt auf jeden Fall in einer solchen Situation für alle so etwas wie Verhängnis und Verstrickung. In diese bin ich einbezogen und von ihnen betroffen, auch wenn ich nicht unmittelbar Schuld auf mich lade.“ (S.184)

Dazu wäre zu sagen, daß der ethische Grundsatz, daß es nur eine moralische Schuld des einzelnen Menschen und keine Schuld eines Kollektivs gibt, vollkommen richtig und immer gültig ist. Nach diesem Grundsatz ist es aber falsch, ohne spezifizierende Erklärung von der Schuld einer gesellschaftlichen Gruppe zu sprechen, die schließlich auch ein Kollektiv ist. Nur wenn alle Mitglieder einer Gruppe einzeln schuldig geworden sind, kann man in einem analogen Sinn, nicht aber in einem univoken, primären Sinne sagen, die Gruppe sei schuldig. "Gruppe" ist hier nur ein anderes Wort für "alle einzelnen".

Die Behauptung, daß es eine verhängnisvolle Situation geben kann, in die man verstrickt ist, ohne unmittelbar schuldig zu werden, ist ebenfalls fragwürdig und letztlich falsch, weil es eine nur mittelbare Schuld nicht gibt und wenn es sie gäbe, wäre es doch auch eine moralische Schuld. Lehmann meint wohl, es gäbe hier mildernde Umstände für das schuldhafte Verhalten.

In eine verhängnisvolle Situation verstrickt zu sein bedeutet aber, daß man einer moralischen Entscheidung nicht ausweichen kann. In einer extremen Situation ist der Punkt erreicht, wo man entweder gegen das Unrecht handeln muß oder ihm nachgibt und sich dadurch zwangsläufig schuldig macht. Da aber die meisten Menschen erfahrungsgemäß keine Helden sind, machen sie sich in solchen Situationen mehr oder weniger schuldig. Dies wäre der rationale Kern dessen, was Lehmann wohl sagen wollte.

Um wie viel klarer und entschiedener haben sich doch in der Frage der Schuld der Kirche während des Hitler-Regimes Reinhold Schneider und Theodor Haecker geäußert. Schneider bekennt: „Als Katholik komme ich nicht über das Konkordat hinweg. Als Katholik sehe ich mich nicht imstande, die Schuld zu leugnen.“ Und zur Verfolgung der Juden erklärt er: „Am Tage des Synagogensturmes hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen. Es ist entscheidend, daß das nicht geschah.“ Er beläßt es aber nicht bei dieser Anklage, sondern bekennt, daß er selbst sich in der damaligen Situation feige verhalten habe ( Verhüllter Tag 1956, 212;155).

Haecker kritisiert im Sommer 1940 das allzu diplomatische Verhalten des Papstes gegenüber dem NS-Regime: „Manchmal kommt es mir vor, als habe man im Vatikan ganz und gar vergessen, daß Petrus nicht nur Bischof von Rom war […], sondern auch Märtyrer war. Aber die Zeiten der Erinnerung und der Nachfolge sind unterwegs und nicht ferne.“ ( Tag- und Nachtbücher 1959, 137) Wie man weiß, hat dann der Papst die Nachfolge als Märtyrer, d.h. als Mann des entschlossenen, kompromißlosen öffentlichen Widerstands gegen die nationalsozialistische Herrschaft nicht angetreten.

J.Q. — 28.11.2020

©J.Quack


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