Josef Quack

Notiz zum 70jährigen "FAZ"-Jubiläum




Brecht schildert in einem witzigen Gedicht, wie die chinesischen Kommunisten im Bürgerkrieg die Rückseite eines gegnerischen Flugblattes benutzen, um dem Volk ihre Ideen mitzuteilen — „angesichts des Mangels an Papier und der Fülle der Gedanken“.
Die FAZ brachte zu ihrem 70jährigen Bestehen am 2. November 2019 eine Beilage heraus, deren erste Seite in Großdruck mit viel Leerraum den Leitartikel der ersten Nummer der Zeitung wiedergibt. Auch die übrigen Seiten enthalten oft mehr Leerraum als Text, so daß man folgern muß, daß ein Mangel an Gedanken und eine Fülle des Papiers besteht.
Diese Vermutung wird denn auch durch die Lektüre bestätigt. Es fällt nämlich sofort auf, was in dieser üppigen Selbstfeier des Blattes nicht gesagt wird. Daß jener programmatische Leitartikel von Paul Sethe stammt, erfährt man erst auf Seite 23 und 30. In dem viel zu kurz geratenen Rückblick auf die Geschichte des Blattes gibt Peter Hoeres auch den Grund an, warum die Zeitung sich von Sethe als Herausgeber trennte. Daß später auch Jürgen Tern, Hugo Müller-Vogg und Hugo Steltzner (!) von ihren Kollegen aus dem Herausgeber-Gremium weggebissen wurden, bleibt unerwähnt. Statt dessen liest man blumige Bekenntnisse über das Glück, Herausgeber der FAZ zu sein. Jürgen Tern wurde verabschiedet, weil er der sozialliberalen Koalition zuneigte, Müller-Vogg mußte gehen, weil er angeblich zu enge Beziehungen zur Bild-Zeitung unterhielt. Daß wenig später Frank Schirrmacher wohl noch enger mit dem Boulevard-Blatt kollaborierte, hatte dann für den Bestseller-Autor keine derartige Folge. Warum Steltzner gehen mußte, war nicht genau zu erfahren.
Nicht genannt wurde auch der wohl kurioseste Mann, der je Herausgeber der Zeitung war, Erich Helmensdorfer, ehemals Moderator des ZDF, dann Korrespondent in Kairo, schließlich Herausgeber der FAZ, zuständig für Frankfurt, das er wahrscheinlich ebenso gut kannte wie die ägyptische Hauptstadt, die städtische Obrigkeit bei öffentlichen Auftritten schildernd im Duktus einer Hofschranze. Aufgefallen ist der Mann, als er in einer lokalen Leitglosse Verständnis für deutsche Touristen zeigte, die ihren Urlaub durch den Anblick von Behinderten gestört fühlten, die neben ihrem Hotel untergebracht waren. Außerdem sorgte er dafür, daß Hadayatullah Hübsch, deutscher Schriftsteller und Prediger einer hiesigen muslimischen Gemeinde, nicht mehr für die Zeitung schreiben durfte, weil er in einem Gewand durch die Stadt laufe, das eines Mitarbeiters der FAZ unwürdig sei – ein klarer Fall von Fremdenfeindlichkeit, den die übrigen von Hübsch informierten Herausgeber aber schändlicherweise widerspruchslos duldeten.
Als Schirrmacher starb, erklärte der Herausgeber Günter Nonnenmacher in einem Interview, daß Schirrmacher Bestseller-Autor gewesen sei, habe sich für die Auflage der Zeitung aber nicht ausgezahlt oder in ihr bemerkbar gemacht. Damit wollte er sagen, daß die Auflage der Zeitung trotz des Bucherfolges von Schirrmacher spürbar gesunken sei. Dem Manne scheint nicht der Gedanke gekommen zu sein, daß die Zeitung gerade auch deshalb zunehmend Leser verlor, weil jener Autor einer ihrer Herausgeber war.
Als Joachim Fest 1973 die Leitung des Feuilletons übernommen hatte, kauften viele Leser gerade wegen des neuen Kulturteils die Zeitung, obwohl sie den extrem konservativen politischen Teil und den Wirtschaftsteil mit der kapitalistischen Schlagseite ablehnten — sie nahmen diese Sparten aber in Kauf wegen des vorzüglichen Feuilletons und wegen des von Reich-Ranicki temperamentvoll redigierten Literaturblattes.
Diesen Ruf aber hat das Feuilleton unter Schirrmacher sehr bald eingebüßt, und es gab ganz gewiß viele Leser, die die Zeitung deswegen nun nicht mehr in die Hand nahmen. Schirrmacher war ein Champion der Halbbildung, wegen seines recht zweifelhaften akademischen Status vom Spiegel anfangs kritisch beschrieben, dann in Ruhe gelassen, nachdem er Augstein zum Börne-Preis verholfen hatte, ein Autor des Alarmismus, der die New York Times für die Quelle der Weisheit hielt, und bezeichnenderweise ein Wortführer der grundlosen Kampagne gegen Christian Wulff.
Zu dem allenfalls amerikanisch affizierten, aber keineswegs humanistischen Bildungsniveau des Feuilletonchefs genügt wohl folgender Beleg. Unter seiner Aufsicht erschien ein Beitrag, in dem eine Professorin "authentisch" (echt) mit "autochton" (eingeboren) verwechselte und aus dieser falschen Prämisse die unsinnigsten Folgerungen zog. Zu allem Überfluß wurde der Artikel auch noch groß rausgebracht, was schlagend beweist, daß die Redaktion sich damit identifizierte. Er zeigt aber nicht nur den deplorablen Wissensstand der Redaktion an — wie der Herr, so's Gescherr —, sondern auch, daß unter den Lesern dieses Feuilletons kein humanistisch Gebildeter war, der den Fehler bemerkt hätte.
Schirrmacher war ein Streber sondergleichen, ein Karrierist mit einer machtbewußten Zielstrebigkeit, die man fast schon wieder bewundern mußte. Zum Herausgeber avanciert, bootete er Joachim Fest, dem er seine Karriere verdankte, bei passender Gelegenheit aus, so daß Fest nun in anderen Blättern publizieren mußte. Die Sache ist auch insofern pikant, als Fest in seiner Geschichtsschreibung die biographische, psychologisch verstehende Methode anwandte, in diesem Fall aber sich völlig irrte — seine Menschenkenntnis hatte total versagt. Der Streber veröffentlichte das obligate Buch über Reich-Ranicki, der es ihm dadurch dankte, daß er ihn in den Kanon deutscher Essayisten aufnahm. Man stelle sich vor: Neben Goethe, Schiller, Kleist, Thomas Mann figuriert nun auch Frank Schirrmacher! Difficile est satiram non scribere. Übrigens wird der nach ihm benannte Preis vorsichtshalber nur an ausländische Autoren vergeben, die den Mann nicht kennen.
Augenscheilich war seine Reverenz gegenüber Reich-Ranicki, ebenso wie seine Rücksichtnahme auf die Jüdische Gemeinde, rein taktischer Natur. Er wollte von dessen Ansehen profitieren. Was er wirklich dachte, d.h. seine selbstherrliche Ambition, verriet er im Januar 1988, als er die Leitung des Literaturblattes übernommen hatte und nun Autoren positiv besprechen ließ, die vordem meist verrissen worden waren. Gefragt, was Reich-Ranicki dazu sagen würde, meinte er, dieser sei "nur noch ein biologisches Problem" (E.Henscheid, Denkwürdigkeiten 2013, 208).
War es nicht unter seiner Regie, daß einer Trivialautorin zwei ganze, wertvolle Seiten des Feuilletons gewidmet wurden, was man geradezu als Allegorie für den Niedergang der Zeitungskultur betrachten konnte? Ein intellektueller Absturz, der wohl nur in einem Feuilleton möglich war, dessen Leiter Stephen King und Johannes Mario Simmel zu seinen literarischen Lieblingen zählte. Item: Carl Schmitt wurde in der spießigsten Manier, ärger als im Jargon der muffigen fünfziger Jahre, durch eine Schlagzeile als Ehebrecher herausgestellt, als hätten dessen Frauengeschichten etwas mit seiner staatsrechtlichen Schützenhilfe für Hitler zu tun. Über die kulturelle Szene in Frankreich unterrichtete die Leser ein in Genf sitzender Korrespondent mit Meldungen und Meinungen, die bei wirklichen Frankreich-Kennern nur ein Kopfschütteln erregen konnten. Jener abseits des Geschehens postierte Journalist schrieb denn auch zustimmend über den französischen Intellektuellen, der den Präsidenten Sarkozy zu dem militärischen Eingreifen in Libyen überredet hatte, was die Zeitung kritiklos übernahm, ohne auch nur einen Gedanken an die möglichen Folgen dieses törichten Ratschlags zu verwenden. Heute ist Libyen ein extrem labiler Staat und Durchgangsort für unwillkommene Flüchtlinge.
An dem Beispiel zeigt sich überdeutlich, daß der Zeitung seit langem ein Militärexperte fehlt, wie es Adelbert Weinstein gewesen war, ein Kenner dieses gefährlichsten und kostspieligsten Komplexes der Politik, ein Fachmann, der das Potential der heute verfügbaren Waffen beurteilen und den Lesern erklären könnte. Man könnte meinen, für die Zeitung sei nichts wichtiger als kompetente Mitarbeiter, getreu dem Motto der führenden amerikanischen Presse, daß die Qualität der Redakteure sich in der Rentabilität der Zeitung auszahle.
Was die Wirkung der FAZ in Paris angeht, so hat man die rühmliche Tatsache nicht gewußt oder vergessen, daß einst Charles de Gaulle täglich die FAZ las, die er höher schätzte als Le monde, wie Scholl-Latour berichtete.
Hoch anrechnen muß man es der Redaktion, daß sie die feministische Sprachmode und Sprachpolitik nicht mitmacht. Lukas Weber verteidigt mit klugen Worten die Sorgfalt, mit der man die deutsche Sprache in dem Blatt behandelt wissen will. Er erklärt, daß die Zeitung nach der vermurksten Reform der Rechtschreibung von 1996 dann im August 2000 zur bewährten Schreibweise zurückgekehrt sei.
Er vergißt, daß diese Rückkehr nicht vollständig vollzogen wurde, sondern die Konjunktion „dass“ mit zwei „s“ statt dem bewährten „daß“ von der mißglückten Rechtschreibe-Reform übernommen wurde. Der Redaktion geht das ästhetische Distinktionsvermögen ab, mit dem Theodor Ickler den kleinen Unterschied zwischen dem Artikel „das“ und der Konjunktion „daß“ begründet. Auch schreibt die Zeitung "Zusammenschluss" statt "Zusammenschluß" (S.3), "Prozess" statt "Prozeß", "Misstrauen" statt "Mißtrauen" (S.10). In einem anderen Artikel ist in feministischer Manier von Studierenden statt von Studenten die Rede, weil der Autor nicht weiß, daß Student sich von dem lateinischen "studens" herleitet, einem Adjektiv, das sowohl männlich als auch weiblich ist — siehe oben zu den Humaniora, an denen es auch bei dem folgenden Schnitzer hapert.
Einfach falsch ist, daß Habeck "ein guter Rhetoriker" (Redekünstler, Lehrer der Rhetorik) sei; gemeint war nur, daß er ein guter Rhetor (Redner) sei (S.3). Übrigens unterscheidet hier der Wahrig (2005) richtig, während der Duden (2009) seine Nutzlosikeit wieder einmal dadurch beweist, daß er den Sinn der beiden Wörter nicht unterscheidet. Der Wahrig ist auch deshalb informativer, weil er jeweils neben der neuen auch die traditionelle Schreibweise eines Wortes verzeichnet.
Zudem sagt Weber uns nicht, warum die Zeitung sich, nach der modischen Vorgabe der Pünktchen-Partei (F.D.P.), nun ebenfalls mit Pünktchen abkürzt: "F.A.Z". Will man damit die Buchstabentrennung in der Aussprache, Ef-A-Zet, erzwingen und die an "Fatzke" erinnernde Aussprache, Faz, verhindern?
Man hätte auch gerne gewußt, warum ihre Kulturzeitschrift den schönen deutschen Titel Quarterly trägt.
Warum überhaupt diese Nebenprodukte, vier bunte Zeitschriften? Wenn eine Zeitung um ihr Überleben kämpft, müßte man annehmen, daß sie ihre Kräfte und Energien auf das Hauptgeschäft konzentrierte, einen möglichst guten und attraktiven Journalismus machte und sich nicht in allerlei Zeitschriften verzettelte. Werden diese Zeitschriften nur gemacht, um Anzeigen hereinzubringen? Als reine „Anzeigenplantagen“, um ein Wort von Karl Kraus aufzunehmen?
Schließlich noch ein Wort zur Reform der deutschen Orthographie. Man kann sich sicher sein, daß es diese staatlich verordnete Verunstaltung des Deutschen nicht gegeben hätte, wenn zu jenem Zeitpunkt, in den neunziger Jahren, nicht Schirrmacher, sondern Karl Korn Chef des Feuilletons gewesen wäre. Er hätte das publizistische Format, die sprachliche Kompetenz und die geistige Energie gehabt, die Reform der Reformer durch einen Appell an die gebildete Öffentlichkeit zu verhindern. Übrigens wurde jene Reform von sprachfremden Funktionären in den damals linksgewirkten Staatskanzleien von Düsseldorf und Wiesbaden politisch durchgesetzt.
Eine letzte Bemerkung. Die Bildauswahl der Jubiläumsbeilage zeigt zweierlei. Erstens, daß auf grobem Zeitungspapier die Schwarz-weiß-Fotos immer noch am besten rauskommen, während die Farbfotos alle etwas Gekünsteltes, unnatürlich Plakatives haben. Und zweitens, daß die besten Fotos von Barbara Klemm stammen, als Photographin eines der besten journalistischen Talente der Zeitung, der deutschen Presselandschaft.

P.S. zu Schirrmacher

In dem Tagebuch von Fritz J. Raddatz, einem larmoyanten, autistischen Kompendium indiskreter Klatschgeschichten, findet sich am 28.10.2004 der unglaubliche, aber offensichtlich nicht erfundene, sondern wahre Eintrag über einen Besuch Schirrmachers bei dem Autor: "So schied ich weiland, gar mit Umarmung — 'Sie sind ein ganz großer Autor' war sein Abschiedswort — von FAZ-Schirrmacher, nachdem er einen Tag lang bei mir am Kamin Auszüge der Tagebücher gelesen hatte — 'So etwas gibt's nicht noch einmal in der deutschen Literatur', er war tief bewegt, bot 500 000 DM für den Vorabdruck und sagte auf mein 'Geht das nicht über Ihre Verhältnisse' nur 'Eigentlich ja — aber wir sind Ihnen noch viel schuldig wegen 'damals'' (die Weg-mit-Raddatz-Glosse in der FAZ) — und schied und ward nie mehr gesehen."
Ein wahrhaft entlarvender Bericht, der keines weiteren Kommentars bedarf. Schirrmacher hatte den ersten Band dieser Tagebücher, wohlgemerkt: eine peinliche Revue über Literaten und Society-Menschen, "den großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik" genannt — was ein grelles Licht auf sein literarisches Urteilsvermögen wirft und auf den Literaturbetrieb, den er, Preise vergebend und Preisreden haltend, kräftig beeinflußte, während Raddatz, wiewohl selbst in dem Betrieb eifrig mitmischend, dessen Verkommenheit zu beklagen nicht müde wurde (cf. J.Q. Klatschgeschichten).

J.Q. —  4. Nov. 2019 / 26. Juli 2020 /1. Juni 2021

©J. Quack


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