Josef Quack

Wenn das Salz schal wird — Zur Krise der Kirche





Kritik und ein grundsätzlich auch kritisches Verhältnis zur Kirche gehören zum Wesen des Christentums und des katholischen Glaubens.

K. Rahner

Wenn nicht alles täuscht, erleben wir gerade den Augenblick, wo Papst Franziskus, bisher der strahlende Liebling der Medien, der stets lächelnde Star vieler Namenschristen und auch vieler religiöser Analphabeten, seinen medialen Charme rapide einbüßt. Das Echo auf die Rede, die er zum Abschluß der Bischofskonferenz über den sexuellen Mißbrauch in der Kirche gehalten hat, war bei uns durchweg negativ, in Einzelfällen sogar vernichtend.
Gewiß hat er die Mißbrauchsfälle in der Kirche als abscheulich, kriminell und böse verurteilt. Er hat aber zwei schwere Fehler begangen, die dieses Verdikt nicht ganz glaubwürdig erscheinen lassen. Er hat die kirchlichen Schandtaten als ein übles Phänomen beschrieben, das in allen Kulturen und Gesellschaften vorkommt, und obwohl er behauptet, daß der weltweite Gesichtspunkt nicht die Abscheulichkeit der Taten in der Kirche schmälere, relativiert er de facto die kirchlichen Verbrechen dadurch, daß er hauptsächlich die allgemeinen oder globalen sexuellen Verfehlungen in einer Gesellschaft des kommerzialisierten und digitalisierten Sexes beschreibt und kritisiert.
Der zweite Fehler besteht darin, daß er die Schuld an den klerikalen Verfehlungen letzten Endes dem Satan zuschreibt, ganz im romantisch-mittelalterlichen Stil eines vormodernen Christentums. Eine solche Redeweise, die sich heutzutage allenfalls ein Dichter oder ein Romancier erlauben könnte, erweckt aber den Eindruck, daß er die Verantwortung der kirchlichen Kinderschänder und Vergewaltiger verkleinern, ja, die Übeltäter in bestimmter Hinsicht entschuldigen wollte.
Das macht: Er hat es unterlassen, nach den spezifischen Gründen, den innerkirchlichen Zuständen und der Personalstruktur der Kirche zu fragen, die derartige Schandtaten ermöglicht und begünstigt haben, und als konkrete Maßnahme hat er nicht mehr als eine Willenserklärung abgegeben, alles zu tun, um solche Verbrechen in der Kirche aufzuklären und zukünftig zu verhindern.
Ein wahrhaft enttäuschendes Fazit! Und zu diesem Zweck sind etliche hundert Bischöfe nach Rom gekommen! Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus (Es kreißen die Berge, geboren wird eine lächerliche Maus).
Auch der Limburger Bischof hat sich in einem Hirtenbrief zu dem heiklen Thema geäußert. Dabei fällt zunächst auf, daß er mit keinem Wort die Rede des Papstes erwähnt. Sein Brief ist aber auch nicht viel konkreter, sachdienlicher und überzeugender als jene Verlautbarung. Immerhin werden als vorgesehene Maßnahmen erwähnt: „Anfragen an die katholische Sexualmoral einschließlich der Bewertung der Homosexualität, […] Perspektiven auf Macht und Machtmißbrauch innerhalb klerikaler Strukturen und deren notwendige Kontrolle“.
Damit wurde wenigstens ein wichtiger Faktor im Kontext der Mißbrauchsskandale beim Namen genannt, der Zusammenhang zwischen derartigen Verfehlungen und der Homosexualität der klerikalen Täter, ein Zusammenhang, auf den Kardinal Gerhard Ludwig Müller hingewiesen hatte. Er behauptet, daß nach der Statistik der Glaubenskongregation 80 Prozent der Mißbrauchsfälle homosexueller Art gewesen seien (Der Spiegel Nr.8/2019). Dieses Thema wird derzeit in Kirchenkreisen heftig diskutiert. Wie immer man zu dieser Frage stehen mag, man kann schlecht abstreiten, daß bei einem Klerus, der, wie begründet vermutet wird, im Vergleich zur allgemeinen Gesellschaft überdurchschnittlich viele Homosexuelle enthält, Verfehlungen der genannten Art auch wahrscheinlicher werden.
Was aber der Papstrede fehlt und in dem Hirtenbrief nur oberflächlich gestreift wird, ist die offensichtliche Tatsache, daß die mit dem Stichwort des sexuellen Mißbrauchs bezeichnete Krise der Kirche recht eigentlich eine eigentümliche und eigenwüchsige Krise des Klerus ist, angefangen vom Pfarrer, über den Bischof, den Nuntius bis zum Kardinal. Das heißt aber nichts anderes, als daß eine Hauptursache des strukturbedingten Mißbrauchs doch wohl der Klerikalismus ist, der auf dem Amt und der Funktion beruhende Hochmut und Übermut der Kleriker, die leicht in Gefahr sind, ihre Stellung und ihre Macht gegenüber Kindern und Jugendlichen schändlich auszunutzen.
In einer unvermindert aktuellen Schrift über den notwendigen Strukturwandel der Kirche (1972) sprach Karl Rahner von "der ekklesiologischen Introvertiertheit", also der Selbstbezogenheit und Egozentrik, als einem Erbübel der Kleriker und er machte sich dementgegen für eine „entklerikalisierte Kirche“ stark. Das Gegenteil ist eingetreten, und es ist nicht ohne objektive Ironie, daß gerade der zunehmende Priestermangel dazu geführt hat, daß der Klerikalismus sichtlich zunahm: Je weniger Priester es gibt, um so wertvoller, unentbehrlicher und angesehener wird der einzelne Amtsinhaber, und nicht wenige Pfarrherren werden fast zwangsläufig in einem nicht zu ertragenden Maße arrogant und überheblich. Das zeigt sich auf vielen Gebieten, am sichtbarsten in der Gestaltung der Liturgie, wo mancher Pastor sich für einen kleinen Papst hält, der die Meßfeier nach seinem persönlichen Geschmack einrichten kann, obwohl das vielbeschworene letzte Konzil dergleichen ausdrücklich verbietet.
Im krassen Gegensatz zu dieser Eigenmächtigkeit der Pfarrer steht die bekannte Tatsache, daß kaum ein Geistlicher fähig ist, eine halbwegs vernünftige Predigt zu halten. In einem frühen Roman von Heinrich Böll erklärt der Protagonist, "er könne nicht in die Kirche gehen, weil die Gesichter und die Predigten der meisten Priester unerträglich seien". Dazu und zu Bölls sonstiger Kirchenkritik wäre zu bemerken, daß sein Vater seinen Söhnen verboten hatte, Ministrant zu werden, weil er selbst als Ministrant "ziemlich düstere Erfahrungen mit Priestern und Küstern gehabt hatte" (cf. J.Q., Zur christlichen Literatur, S.64 u. 88.).
Wie wenig begründet das hypertrophierte Selbstverständnis der Kirchenleute ist, erkennt man schließlich auch daran, daß es heute, d.h. seit Jahrzehnten, keine überragende Theologen vom Range eines Rahner, Balthasar, Metz, Chenu oder Lubac mehr gibt. Der letzte Theologe dieses Formats war der einzige Ratzinger, der nun leider verstummt ist. Was heute als hochgepriesene Gotteslehre daherkommt, ist enttäuschend, vor allem deshalb, weil es weit unter dem philosophischen Niveau eines Thomas von Aquin oder Rahner liegt (cf. J.Q., Theologie auf dem Rückzug).
Was die Krise angeht, so sollte man auch nicht vergessen, daß der sozusagen klassische, nämlich der aus der Tradition bekannte und beklagte Klerikalismus durch das päpstliche Schreiben „Amoris laetitia“ (2016) sichtlich gestärkt wurde. Was die geschiedenen und wieder verheirateten Paare angeht, so wurde deren Zugang zu den Sakramenten nicht durch eine allgemeine Vorschrift geregelt, sondern letztlich der Entscheidung des Seelsorgers vor Ort überlassen. Es war eine zweideutige und zweifelhafte Lösung eines brennenden Problems, die denn auch heftig umstritten ist.
Ein Wesensmerkmal des Klerikalismus aber ist, daß die kirchlichen Amtspersonen praktisch immun sind gegen jede Kritik. Nach meiner Erfahrung gibt es keinen Berufsstand, bei dem die Lernbereitschaft und die Neigung zur Selbstkritik, eine unerläßliche Voraussetzung jeder Fehlerkorrektur, so wenig ausgeprägt sind wie bei den Klerikern unserer Tage. Die Unempfänglichkeit für Kritik geht oft, um nicht zu sagen, meist und notwendigerweise einher mit einer bezeichnenden intellektuellen Minderbegabung; denn um eine Kritik einsehen zu können, ist ein Mindestmaß an Intelligenz vorausgesetzt (cf. J.Q., Lehrjahre in St. Wendel und St. Augustin).
Deshalb bin ich sehr skeptisch, was die Überwindung der derzeitigen Krise der Kirche angeht. Es ist nicht zu sehen, wie der Klerus seine Herren-Mentalität aufgeben sollte und die Herren sich als Diener verstehen könnten.
Nach ein Wort zum Limburger Hirtenbrief. Er enthält eine Fassung des offiziellen Wortlauts in sogenannter „leichter Sprache“, angeblich gedacht als „Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung“. Der Text ist absichtlich auf einem unglaublich primitiven Sprachniveau gehalten, auf dem die Gedanken sich aber fast verflüchtigen. Ich meine, man sollte jene erbarmungswürdigen Menschen mit derartigen Angeboten kirchlicher Weisheit in jedem Fall verschonen.
Im Stil unverbindlichster Erbaulichkeit heißt es da: „Wir müssen aufeinander achten. / Wir müssen gut mit Kritik umgehen.“ Ich glaube nicht, daß irgendein geistig Behinderter verstehen kann, was mit der unbestimmten Phrase „umgehen“ und dem ganzen abstrakt formulierten Satz gemeint ist; denn die Worte haben selbst für geistesstarke Menschen keinen vernünftigen Sinn. Der Text enthält nur kurze Hauptsätze, so als sei nur eine komplizierte Syntax schwer zu verstehen. Daß auch einfachste Sätze rätselhaft und unverständlich sein können, haben die Autoren nicht beachtet.
In sachlicher Hinsicht wird hier nichts anderes als eine Botschaft der Nettigkeit verkündet, gut gemeint, aber in einer unerträglich banalen Diktion, ein Tiefpunkt des trivialisierten, jeden ideellen Gehalts entleerten Christentums, das den Adressaten gewiß nicht helfen kann, uns andere aber nur irritieren muß.
Thomas von Aquin, der Lehrer des gesunden Menschenverstandes, hat wiederholt die Christen ermahnt, sie sollten nicht so reden und sich nicht so verhalten, daß sie in den Augen der Ungläubigen und Heiden lächerlich erscheinen. Man kann nur hoffen, daß kein Ungläubiger und kein Heide unserer Tage jenes sprachlich versimpelte Hirtenwort zu Gesicht bekommt. Es genügt vollauf, daß sich die Kirche in deren Augen durch die genannten Verfehlungen gründlich diskreditiert hat.

J.Q. — 18./31. März 2019

© J.Quack


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