Josef Quack

Melancholische Erinnerung an das Ende der Weimarer Republik und den Anfang der deutschen Katastrophe





Lob des Revolutionärs
Er organisiert seinen Kampf
Um den Lohngroschen, um das Teewasser
Und um die Macht im Staat.

B. Brecht

Die Erinnerung ist nicht nur melancholisch wegen des widrigen Gegenstandes, der zur Debatte steht, sondern auch wegen der ungenügenden historischen Darstellungen darüber. Nur Joachim Fest und Sebastian Haffner haben die Dinge richtig gesehen, während die anderen Historiker, die ich gelesen habe, den springenden Punkt nicht erfaßt haben.

Zunächst aber die These. Eine weitverbreitete Meinung besagt, daß der Untergang der Weimarer Republik, das Ende der deutschen Demokratie, von Hitler und seiner Bewegung verursacht worden sei. Nichts ist falscher als das. Die nationalsozialistische Partei wurde im Herbst 1930 deshalb zur stärksten Partei, weil die Parteien der Weimarer Republik versagt hatten. Sie konnten die gewaltigen wirtschaftlichen und außenpolitischen Probleme nicht lösen, und was schlimmer ist, sie erstrebten nicht einmal die politische Macht, um die schweren Probleme lösen zu können.

Das ist die bittere historische Wahrheit. Sie wird deshalb oft, selbst in fachhistorischen Werken, verschwiegen, weil man den demokratischen Parteien nicht gerne die Schuld am Aufstieg Hitlers geben möchte. Hitler aber kam nicht auf illegale Weise zur Macht, sein überraschender enormer Erfolg in dieser Phase beruhte auf dem politischen Versagen der demokratischen Parteien.

Joachim Fest spricht mit aller wünschenswerten Klarheit von der „Flucht fast aller Parteien aus der politischen Verantwortung“. Zudem stellt er fest, daß der Reichstag schon im Februar 1930 „nicht mehr der Ort der politischen Entscheidung“ war. Brüning hat schon vor den Wahlen im September 1930 über das Parlament hinweg „mit dem Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung regiert.“ Fest nennt diese Methode ein „halbdiktatorisches Regierungsverfahren“: „Wer darin bereits die Todesstunde der Weimarer Republik erblickt, sollte freilich bedenken, daß diese Machtverschiebung nur möglich war, weil sie dem Hang nahezu aller Parteien zur Flucht aus der politischen Verantwortung entgegenkam.“

Auch widerspricht er mit einem gewissen Recht der Meinung, daß die „unpolitischen Massen für die autoritäre Wendung des Geschehens“ verantwortlich seien. Es waren vielmehr die Parteien von rechts bis links, die „im Augenblick der Krise dem präsidialen ‚Ersatzkaiser‘ die Verantwortung zuschoben,“ weil sie mit den notwendigen „unpopulären Entscheidungen“ nicht in Verbindung gebracht werden wollten (Joachim Fest, Hitler. Eine Biographie. Berlin 1973, 412).

Heinrich August Winkler beschreibt in einem Aufsatz über die vermeidbare Machtergreifung Hitlers die Situation zwar völlig richtig, fragt jedoch nicht nach ihrer Ursache. Er berichtet, daß NSDAP und KPD nach den Wahlen vom 31. Juli 1932 im Reichstag über eine negative Mehrheit verfügten; zwar wäre eine parlamentarische Krisenlösung in Form einer braunschwarzen Koalition noch möglich gewesen, doch wurde sie von Hitler verworfen: „Der Reichstag fiel folglich als Verfassungsorgan faktisch aus. Das Parlament konnte keine konstruktive Rolle mehr spielen, weil sich die Mehrheit der Wähler für Parteien entschieden hatte, die die Demokratie beseitigen wollten.“ (H.A. Winkler, Auf ewig in Hitlers Schatten? Anmerkungen zur deutschen Geschichte. München 2007, 95f.)

Winkler stellt nicht die ausschlaggebende Frage, warum denn die Mehrheit der Wähler gegen die Demokratie und für die totalitären Parteien gestimmt hat – weil die demokratischen Parteien nicht willens waren, die politische Macht zu übernehmen, um die gewaltigen Probleme zu lösen. Sie waren dazu offensichtlich auch nicht fähig.

Ian Kerkshaw beschreibt diese Phase von Hitlers Aufstieg enttäuschend vag und unpräzis. Er sieht die Hauptschuld am Untergang der Weimarer Republik bei den deutschen Machteliten, die hofften, „mit Hilfe der Wirtschaftskrise den Sturz der Demokratie zu bewirken und sie durch eine Art autoritärer Herrschaft zu ersetzen“. Im März 1930 sei dafür der Augenblick gekommen. Kerkshaw spricht vom „Selbstmord der Weimarer Republik“, er hält den Sturz des Reichskanzlers Hermann Müller und den Amtsantritt Heinrich Brünings für die ersten Schritte auf diesem Weg: „Ohne die selbstmörderischen Kräfte des demokratischen Staates, ohne den Wunsch derer, die die Demokratie erhalten sollten, sie zu untergraben, wäre Hitler trotz seiner Begabung als Agitator nie in die Nähe der Macht gekommen.“ (I. Kerkshaw, Hitler 1889-1945. München 2009, 219f.)

Damit spielt Kerkshaw wohl auf die Schuld und die Verantwortungslosigkeit des Reichspräsidenten an, was den Aufstieg Hitlers zur Herrschaft betrifft; der Historiker spricht aber nicht explizit und konkret von dem Versagen der politischen Parteien, das es erst ermöglichte, daß der Reichspräsident, beraten von undemokratisch, autoritär gesinnten Köpfen, gegen das Parlament den Lauf der Dinge bestimmen konnte. Übrigens schildert der Autor auch die Umstände, die zur Billigung des Ermächtigungsgesetzes geführt haben, durchaus nicht so genau und ausführlich, wie es zum Verständnis nötig gewesen wäre.

Der Ploetz über die deutsche Geschichte beschreibt zwar die politischen Strukturdefekte des Weimarer Staates, doch wird er der Komplexität der Ursachen, die die Beseitigung der Weimarer Republik bewirkten, letztlich nicht gerecht.

Volker Hentschel erklärt zu dem Wählerverhalten nach 1923, daß das „hinlänglich sichere demokratische Potential in der Bevölkerung“ bei kaum mehr als 40% gelegen habe. Dennoch wären mehrheitsfähige Koalitionen möglich gewesen, wenn eine demokratische Politik sichtbare Erfolge gehabt hätte und „die demokratische Integrationskraft“ zugenommen hätte, was immer damit gemeint sein soll.

Eine Erfolgsgeschichte war die Weimarer Republik aber gewiß nicht. In diesen 14 Jahren gab es 20 verschiedene Regierungen und nur sieben davon hatten eine Parlamentsmehrheit (Volker Hentschel, Demokratie und totalitäre Herrschaft. In: Conze, Werner u. Volker Hentschel: Ploetz. Deutsche Geschichte. Darmstadt 1998, 285f.).

Hentschel bemerkt zu Recht, daß die Wirtschaftskrise viele bisherige Nichtwähler politisch aktiviert und dazu veranlaßt habe, ab 1930 die NSDAP zu wählen. Zur Juliwahl 1932 schreibt er, daß das Nichtwählerreservoir ausgeschöpft sei: „Kurz, mehr als 40% der Wähler waren auch unter besten Bedingungen [von Hitlers Partei] nicht zu erreichen. Das war ein Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung. Zwei Drittel haben die Nazis nicht gewollt und nicht gewählt und beanspruchten auch nicht, das je zu tun.“ (l.c. 289)

Dazu wäre zu sagen, daß diese Rechnung die Dinge ein wenig beschönigt. Richtig ist, daß Hitler 1932/33 nicht die Mehrheit der Wählerstimmen erreichen konnte. Für die weitere Entwicklung ist jedoch entscheidend, daß 1932 eine Mehrheit der Deutschen für einen autoritären oder totalitären Staat plädierte und die demokratische Republik ablehnte – und zwar nicht, weil der Obrigkeitsstaat dem deutschen Charakter entsprach, wie Thomas Mann meinte, sondern weil die demokratischen Parteien versagt hatten. Sie hatten die Probleme nicht lösen können.

Zu der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar und dem „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933, schreibt der Historiker, daß diese Gesetze die Macht der Nazis deshalb begründeten, „weil alle anderen politisch-gesellschaftlichen Kräfte sich nicht ermannen konnten oder wollten, mit Nachdruck zu verteidigen, was an Demokratie und Rechtssicherheit in Deutschland übriggeblieben war“ (l.c. 291f.) Er erklärt allerdings nicht, an welche demokratischen Kräfte er denn dabei denkt. Dann behauptet er, daß die Wahl von 1933 gezeigt habe, „das die Mehrheit des Volkes die NSDAP nicht zur unbeschränkten Führung im Staat ermächtigen wollte.“ (l.c. 292).

Dies ist eine mögliche Interpretation dieser Wahl, in der Hitlers Partei die Mehrheit der Stimmen verfehlte. Sie besagt aber nichts darüber, ob Hitler nach seinen großen wirtschaftspolitischen und außenpolitischen Erfolgen von der Mehrheit der Deutschen in einer freien Wahl gewählt worden wäre: "Schon 1938 war es Hitler gelungen, die große Mehrheit der Mehrheit, die 1933 noch gegen ihn gestimmt hatte, für sich zu gewinnen, und das war vielleicht die größte Leistung von allen." (Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler. Frankfurt 2003, 40)

Anders als Hentschels Meinung fällt Golo Manns Urteil über die Umstände und Chancen der Machterlangung Hitlers aus: „Es ging letzthin mit rechten Dingen zu, wenn Hitler an die Macht kam, weil er politisch der stärkste war und die vehementeste Volksbewegung gesammelt hatte. Ist eine solche Bewegung einmal da, dann ist ihr Sieg allemal wahrscheinlich, nach den Spielregeln der Demokratie und nach den Regeln der Geschichte.“ Damit sind wohl die Erfahrungen der Geschichte gemeint. Mit der Volksbewegung sei Hitlers Sieg allemal wahrscheinlich gewesen, ob er nun mit Hilfe Papens erfolgte oder mit Hilfe Schleichers oder etwa mit Hilfe des Prälaten Kaas von der Zentrumspartei; und der Ausgang wäre allemal der gleiche gewesen.“ (G. Mann, Deutsche Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt 1966, 799ff.)

Er fragt, warum es seit 1929 so viele Nationalsozialisten gab, und antwortet: „Es lag daran daß der demokratische Staat einen großen Teil des Volkes nicht zu integrieren, sein politisches Sehnen nicht zu befriedigen verstand“ (l.c. 803). Auch lag es natürlich daran, daß das demokratische „System“ weder die außenpolitischen Fragen noch die Wirtschaftskrise meistern konnte (l.c. 810). Daß die Parteien Weimars sich vor der schwierigen Lösung dieser Probleme recht eigentlich gedrückt haben, sagt Golo Mann freilich nicht, wohl aber sagt es in aller Deutlichkeit Sebastian Haffner, ein Autor klarer und entschiedener Worte.

Er betont ebenfalls, daß die Weimarer Republik 1930 schon am Ende war, als Hitler im September seinen ersten großen Wahlerfolg erringen konnte; denn die Regierung Brüning regierte ohne Reichstag und damit war „die Verfassung praktisch schon außer Kraft gesetzt“: „Es ist also ein Irrtum, wenn auch ein weitverbreiteter, daß erst Hitlers Ansturm die Weimarer Republik zu Fall gebracht hätte. Sie war schon im Fallen, als Hitler ernsthaft die Szene betrat ... Es ging nicht mehr um die Verteidigung der Republik, sondern nur noch um ihre Nachfolge." (S. Haffner, Anmerkungen zu Hitler. München 2003, 62f.) Daß Hitler im Januar 1933 schließlich in der Koalition mit den Konservativen die Oberhand gewinnen konnte, erklärt er wie Golo Mann damit, daß „er eine Massenbewegung hinter sich hatte, Papen und Schleicher aber nur die abgehalfterte Elite des defunkten Kaiserreiches“ (l.c. 67).

Bemerkenswert in Haffners Urteil ist, daß er, entgegen der Einschätzung vieler Historiker und wohl auch der öffentlichen Meinung, für den Untergang der Weimarer Republik letztlich nicht ökonomische, sondern politische Gründe anführt, also nicht die Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit, „sondern die schon vorher einsetzende Entschlossenheit der Weimarer Rechten, den parlamentarischen Staat zugunsten eines unklar konzipierten autoritären Staats abzuschaffen. Sie [die Republik] ist auch nicht durch Hitler zerstört worden: Er fand sie schon zerstört vor, als er Reichskanzler wurde, und er entmachtete nur die, die sie zerstört hatten.“ (l.c. 72)

Andernorts begründet er die These, daß die erste deutsche Republik deshalb nach kaum einem Jahrzehnt schon am Ende war, weil die vorhandenen Parteien nicht regieren wollten, und sie wollten und konnten nicht regieren, weil sie sich während des Vorkriegs nicht für die Regierung, die Innen- und Außenpolitik des Reiches, verantwortlich gefühlt hatten: „Ihr Versagen vor dieser Aufgabe [des Regierens] erklärt den schnellen Zusammenbruch der Weimarer Republik – und den Erfolg von zwei ganz neuen Parteien ganz anderen Zuschnitts bei der Wählerschaft“ (S. Haffner, Überlegungen eines Wechselwählers. München 1980, 79f.)

In dem Umstand, daß das Kabinett zwei Jahre lang vom Reichstag „toleriert“ wurde, sieht er die „Abdankung der Parteien von der Regierungsverantwortung“: „Die ‚demokratischen‘ Parteien, die in Brünings Zeit noch eine knappe Mehrheit hatten, drückten sich vor der Regierungsverantwortung; sie fühlten sich eben nicht geschaffen dafür.“ (l.c. 83f.)

Vor allem aber ist bemerkenswert, daß Haffner damals noch eine realistische Chance für eine demokratische Lösung der politischen Krise sah. Wenn die ‚demokratischen Parteien‘ (SPD, Zentrum und Deutschnationale), die etwas schwächer waren als NSDAP und KPD zusammen, aber immer noch stärker als jede der Massenparteien „ein Notbündnis zur Verteidigung der Demokratie geschlossen hätten (wie es Thomas Mann schon im Herbst 1930 vorgeschlagen hatte) wären sie nicht ganz ohne Chance gewesen, den Sturm von rechts und links abzuwettern und in künftigen Wahlen wieder die Mehrheit zu gewinnen.“ (l.c. 88f.) Die fatale politische Wirklichkeit aber sah anders aus: „Die drei ‚demokratischen‘ Parteien waren zwar bereit, sich jederzeit zur Wahl zu stellen; aber sie wollten oder konnten nicht regieren“, während die beiden totalitären Parteien energisch zur Macht drängten (l.c. 91).

Was diesen Punkt betrifft, so hat Thomas Mann sich allerdings in seinem „Appell an die Vernunft“, auf den Haffner anspielt, leider kräftig geirrt: „Wohin aber der Nationalsozialismus uns führen würde, das wissen wir aus dem einfachen Grunde nicht, weil er es selber nicht weiß – weshalb denn auch an der Aufrichtigkeit seines Willens zur Macht die Zweifel sich täglich verstärken“ (Th. Mann, Von Deutscher Republik. Frankfurt 1984, 310). Ein Fehlurteil, das angesichts der NS-Propaganda jener Jahre kaum verständlich ist, wie denn überhaupt in Manns politischen Aufsätzen genau Treffendes mit schöngeistigen Ausschweifungen vermischt ist. Er redet und peroriert in geistesgeschichtlicher Manier, wo es um nackte politische Interessen und Machtverhältnisse geht. Sein feuilletonistischer Bildungsjargon war schon damals schwer erträglich, heute ist er ungenießbar geworden, nur noch goutiert von gleichgesinnten Germanisten und ungebildeten Journalisten.

Zum Schluß noch zwei zeitgenössische Statements zur politischen Lage. Am 14. August 1931 erwähnt Kurt Tucholsky in einer satirischen Glosse einen belanglosen, von ihm fingierten Antrag der SPD an den Reichstag und bemerkt dazu sarkastisch: „Der Entschluß ist deshalb so bedeutungsvoll, weil wir aus ihm zum ersten Mal erfahren, daß es in Deutschland eine Sozialdemokratische Partei gibt, und daß diese Partei jemals in der Opposition gestanden hat.“ Man sieht, daß natürlich auch den Zeitgenossen die politische Abstinenz, das Abseitsstehen der SPD, aufgefallen war und sie sich darüber nur wundern konnten.

An anderer Stelle verweist Tucholsky auf einen fundamentalen Faktor der Demokratie. Wahlen hätten „den alleinigen Zweck, eine Partei an die Macht zu bringen. Und wenn sie dort angekommen ist, was hat sie zu tun? Natürlich ihre Macht zu gebrauchen. Das haben alle Parteien begriffen, mit Ausnahme der SPD, der man zu Unrecht den Vorwurf macht, sie mißbrauche ihre Machtstellung. Sie hat gar keine.“ (Gesammelte Werke. Reinbek 1976, Bd. 9,250).

Es ist zur Gewohnheit geworden, diese Partei dafür zu rühmen, daß sie das Ermächtigungsgesetz abgelehnt hat. Doch ist dies nur die halbe historische Wahrheit. Die andere Hälfte besagt, daß sie in erheblichem Maß auch schuld war am Versagen der Weimarer Republik, das den Aufstieg Hitlers erst ermöglichte.

Tucholsky beweist, daß man auch damals den primären Sinn einer demokratischen Partei darin sah, nach politischer Macht zu streben und sie auszuüben. Diese Einsicht ist keineswegs eine Errungenschaft der Nachkriegszeit, wie man nach Haffners Überlegungen annehmen könnte.

Der sensationelle Wahlerfolg der Nazis im Herbst 1930 ging zu einem gut Teil darauf zurück, daß viele Nichtwähler und Erstwähler ihre Partei gewählt haben. Warum aber gerade die jungen Wähler? Was fanden sie an dieser Bewegung so anziehend?

Dazu schreibt Hans-Joachim Schoeps im November 1930, daß die Zustände und der Status der Weimarer Republik dem bündischen Lebensgefühl der Jugend, ihrem Abscheu vor der Rationalität aller öffentlichen und staatlichen Bereiche widersprachen. Die Ablehnung der Republik äußert sich drastisch in dem Diktum eines jungen Redners: „Weil wir uns für Stresemann nicht totschießen lassen können.“ Auch konnten sie sich nicht für „das Schrebergartenideal sozialistischer Gewerkschaftssekretäre“ begeistern. Sie huldigten einem „vitalen Heroismus“, für den der republikanische Staat kein Verständnis hatte.

Schoeps resümiert mit einer uns heute brutal erscheinenden Offenheit: „Die demokratische Republik wird sich nur dann halten und die Herzen der Jugend gewinnen können, wenn sie endlich autoritär wird.“ Die Regierenden müßten überdies sich für einen „sozialen Volksstaat“ aussprechen und selbst geistig und charakterlich zur Führung legitimiert sein. (H.J. Schoeps, Rückblicke. Berlin 1963, 204ff.)

Dieses Statement erklärt einigermaßen plausibel, warum sehr viele bündisch gesinnte Jugendliche die NS-Bewegung wählten und mit ihr sympathisierten. Es zeigt aber auch, daß diese Jugend ein überspanntes Staatsverständnis hatte. Sie erwartete vom Staat, einem politischen Zweckverband, die Befriedigung weltanschaulicher Bedürfnisse, die er nicht liefern konnte, die NS-Propaganda aber geben zu können versprach. Vor allem aber bleibt Schoeps die Antwort schuldig, wie es denn möglich sein soll, eine demokratische Verfassung mit einem autoritären Regime zu vereinbaren.

Alles in allem ist dieses Statement ein Beispiel für die damals herrschende Verwirrung politischer Begriffe und Ansichten, eine Denkweise, die wir heute kaum noch verstehen können, die wir aber beachten müssen, wenn wir die katastrophale Entwicklung in der Folge dieser Jahre begreifen wollen.

J.Q. — 15. April 2023

©J.Quack


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