Josef Quack

Wo ist die Literatur der Gegenwart geblieben?




Über etwas Unbedeutendes läßt sich nicht viel Relevantes sagen.

Fr. v. Kutschera

Gewiß, wir haben wie eh und je einen regen Literaturbetrieb und wie eh und je werden hier und dort Literaturpreise am laufenden Band vergeben. Die diesjährige Trägerin des Büchnerpreises (Jg. 1946) erhielt bisher die folgenden mehr oder weniger renommierten oder obskuren Preise: Ingeborg-Bachmann-Preis, Walter-Hasenclever-Literaturpreis, Adelbert-von-Chamisso-Preis, Preis der LiteraTour Nord, Künstlerinnen-Preis des Landes Nordrhein-Westfalen, Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, Heinrich-von-Kleist-Preis, Fontane-Preis, Carl-Zuckmayer-Medaille, Alice Salomon Poetik Preis, Roswitha-Literaturpreis der Stadt Bad Gandersheim, Bayerischer Buchpreis, Düsseldorfer Literaturpreis, Schillerpreis der Stadt Mannheim. Außerdem ist die Autorin Mitglied zweier Akademien.

Wer derart üppig ausgezeichnet wurde, muß also ein rühmenswertes, lesenswertes Werk geschaffen haben. Schaut man sich aber die Begründung der Darmstädter Akademie an, so wird hauptsächlich der folkloristische und multikulturelle Charakter ihres Romans über die deutsch-türkische Geschichte hervorgehoben. Warum aber soll man einen Roman lesen, dessen Verdienst vor allem in der politischen Korrektheit besteht? Mir ist diese Begründung ein wenig zu dürftig, als daß ich mich zur Lektüre des Werkes entschließen könnte.

Die Liste der Büchnerpreisträger der letzten Jahre aber ist ein Verzeichnis von No-Names, die wahrscheinlich nicht mal in die Fußnoten der Literaturgeschichte eingehen werden.

Fazit: Literaturpreise sind schon lange kein Anreiz mehr, die gepriesenen Bücher zu lesen, zumal der Vorgang der Auswahl unaufgeklärt bleibt. Wer vergibt die Preise? Kulturfunktionäre oder Lokalpolitiker oder Professoren, die in ihrem ganzen Leben keine Rezension, geschweige denn eine treffende Rezension geschrieben haben? Kurzum, man nimmt die Literaturpreise schon lange nicht mehr ernst.

Das gilt erst recht für den Nobelpreis der Literatur und zwar nicht erst seit dem Skandal der Stockholmer Akademie vor ein paar Jahren. Denn diese Juroren haben in dem Jahrhundert des Bestehens den Preis keinem einzigen der großen Dichter der Zeit verliehen: Marcel Proust, James Joyce, Robert Musil, Alfred Döblin, Graham Greene, Georges Simenon, Bert Brecht, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, Paul Celan wurden nicht mit dem Nobelpreis geehrt. Und spätestes seit Sartre die Annahme des Preises ausschlug, stellt sich die Frage, woher die schwedischen Honoratioren das Recht und die Kompetenz nehmen, über die Güte der Weltliteratur zu urteilen und zu befinden. Und wenn man sich die Reihe der Preisträger der letzten Jahre anschaut, muß man unweigerlich annehmen, daß der Nobelpreis inzwischen zu jenen Ehren gehört, die in Wirklichkeit das Gegenteil sind, wie Flaubert schreibt:

„Die Ehren entehren,
Der Titel setzt herab,
Das Amt verdummt.
Schreiben Sie das auf die Mauern.“

So müssen wir als Zwischenbilanz festhalten, daß wir zwar einen Literaturbetrieb haben, aber keine Literatur, und dieser Betrieb findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Literarische Meldungen gelangen fast nie in die täglichen Nachrichten, während ein neuer Roman von Böll oder Grass nicht nur ein literarisches, sondern auch ein gesellschaftliches Ereignis war.

Gefragt, welchen deutschen Roman der letzten Jahre man unbedingt gelesen haben müßte, kann man ehrlicherweise doch nur den Turm (2008) von Uwe Tellkamp nennen, ein fairer, brillanter Abgesang auf die untergegangene DDR (cf. J.Q., Lesen um zu leben). Aber ein Roman macht noch keine Literatur, und inzwischen ist mehr als ein Jahrzehnt verflossen, ohne daß ein vergleichbares Werk erschienen wäre. Nicht besser steht es mit der Lyrik, deren Szene ich in den Rückschritten der Poesie dieser Zeit (2017) erforscht und durchmustert habe. Während die Nachkriegsdichtung noch von Benn, Brecht, Bergengruen, Eich, Huchel, Celan, Enzensberger, Rühmkorf bestritten wurde, läßt sich für die unmittelbare Jetztzeit kein ähnlich kreativ wirkender Poet nennen.

Was die französische Literatur angeht, so habe ich, abgesehen von etlichen Titeln Simenons, zuletzt den Roman Die siebte Sprachfunktion (2015) von Laurent Binet mit Gewinn gelesen, ein satirischer Roman über die Pariser Intellektuellenszene der 1980er Jahre. Das Buch ist insofern signifikant, als es ein kulturhistorisches Thema behandelt, das überaus fruchtbare literarische, philosophische und sprachwissenschaftliche Leben der jüngsten Vergangenheit, eine Phase schöpferischen Geistes, der in der intellektuellen Dürre der Gegenwart kein Pendant entspricht.

Dagegen konnte ich dem Riesenwerk Don DeLillos, Unterwelt (1997), das bei uns und von amerikanischen, englischen Kritikern hochgepriesen wurde, nichts Gescheites abgewinnen. Zu manieristisch war der Stil, zu banal und abwegig war der Stoff dieses wirren Rückblicks auf die Nachkriegsgeschichte Amerikas. Seitdem aber wurde kein amerikanischer Roman in unseren Feuilletons derart lebhaft propagiert (cf. J.Q., Lesen um zu leben).

Daß wir heute aber keine Literatur mehr haben, die den Namen verdient, hängt meines Erachtens mit drei Faktoren zusammen.

♦ Erstens hat die Literatur ihre politische Bedeutung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts endgültig verloren. In den viereinhalb Jahrzehnten der Nachkriegszeit wurden die Autoren im Kampf der Ideologien – hier kulturelle Freiheit, dort kommunistisches Glücksversprechen – von den jeweiligen politischen Mächten hofiert und gesponsert. Der „Kongreß für kulturelle Freiheit“ samt seiner Zeitschriften, Der Monat, das österreichische Forum, der englische Encounter, wurde von amerikanischen Diensten finanziell großzügig unterstützt, und im Ostblock waren die linientreuen Schriftsteller privilegiert. Sogar die abstrakte Kunst wurde von westlichen Regierungen gefördert, weil sie im Osten verpönt war, und in diesem Klima des geistigen, ideologischen Wettkampfs erlangten selbst völlig unpolitische Dichtungen eine politische Bedeutung, siehe die Diskussion, ob Kafka in Prag oder Moskau gedruckt werden darf.

So wurde das politische Renommee und das gesellschaftliche Ansehen auf die Literatur insgesamt, gleichgültig welchen Themas und Charakters, übertragen. Sie erhielt eine öffentliche Wertschätzung, die mit ihrem eigentlichen Sinn und ihrer künstlichen Intention nichts zu tun hatte. Nach der Wende verlor sie aber diese politisch-gesellschaftliche Bedeutung – sie wurde nicht mehr gebraucht. Von diesem Ansehens- und Wertverlust hat sie sich bis heute nicht erholt.

Wie man sich vielleicht noch erinnert, wurden damals, 1989/1990, in unseren Feuilletons die regimetreuen Autoren des Ostens triumphierend entlarvt und verurteilt. Diese Feuilletonisten ahnten nicht, daß auch sie mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ihre Bedeutung verlieren würden. Denn die Feuilletons in der Zeitung werden ohnehin am wenigsten gelesen und, da sie keinen bedeutenden, allgemein interessierenden Stoff mehr haben, werden sie erst recht nicht mehr beachtet.

♦ Der zweite Faktor für den Schwund oder Niedergang der Literatur ist medialer Art. Die Literatur ist ein Produkt und ein Wesensteil der Schriftkultur, in der Neuzeit wird sie in Zeitungen und Zeitschriften registriert, besprochen, empfohlen und kritisiert. Die Presse aber ist seit ein, zwei Jahrzehnten nicht mehr das primäre Medium der Information und öffentlichen Auseinandersetzung. An die Stelle der Zeitungen ist nicht das Fernsehen, sondern das Internet getreten; so hat die Literatur mit dem Bedeutungsverlust ihres angestammtes Mediums ihr eigenes Wiirkungspotential weitgehend verloren.

Alle Versuche, die Literatur durchs Fernsehen zu fördern, haben bestenfalls den Buchabsatz gesteigert, aber die Kreativität der Literaturschaffenden kaum beeinflußt. Denn das Fernsehen ist ein Medium der Unterhaltung, ein Ort der nie ernstgenommenen und nie ernstzunehmenden Plauderei, siehe das legendäre Literarische Quartett, das letztlich als reine, gestenreiche Unterhaltungssendung erlebt wurde, die einige Bücher bekannt machte, aber keinen einzigen neuen Autor entdeckt oder unterstützt hat. Und der Matador der Sendung, Reich-Ranicki, war durch die Zeitung bekannt und berühmt geworden. Sein Motto war, daß die Kritik die Aufgabe habe, ein gutes Buch gut und ein schlechtes Buch schlecht zu nennen.

Wenn wir heute keine nennenswerte Literatur mehr haben, dann liegt es gewiß auch daran, daß wir keine Rezensenten mehr haben, die diese rigide Kritik durchführen. Statt dessen loben und favorisieren sie fast alles, was sie zu besprechen haben. Außerdem fehlt das Forum der Zeitung, auf dem sich Rezensenten profilieren könnten. Gemeint sind Zeitungen, die noch allgemein gelesen werden. Denn im Internet hat sich bis heute kein bekanntes Portal für Literatur und Kritik gebildet oder etablieren können.

Hier wäre auch an das Radio zu erinnern, dessen Nachtprogramme in den 50er und 60er Jahren in der Literaturszene eine beherrschende Rolle spielten. Alfred Andersch förderte als Redakteur eifrig die Dialoge Arnos Schmidts und Heinz Friedrich setzte sich für Gottfried Benn ein. Wenig später verloren die Literatursendungen des Radios aber ihre Bedeutung – hauptsächlich wegen der uneinsichtigen Selbstherrlichkeit und intellektuellen Beschränktheit der zuständigen Redakteure, die ihr eigenes Literaturkonzept durchsetzen wollten, ein steriles Programm einer formalistischen, nichtssagenden Literatur.

Andersch schrieb am 18. Juli 1971 an Erwin Wickert, ehedem ein bekannter Hörspielautor: "Mir fällt in erster Line die 'künstlerische' Einseitigkeit auf – in Köln beispielsweise kann man kein Hör- oder Fernsehspiel mehr anbringen, wenn man nicht 'avantgardistisch' ist. Was einem da entgegenschlägt, ist offene Verachtung". Und Heinrich Böll hat die Willkür der Entscheidungen der öffentlich-rechtlichen Redakteure scharf kritisiert.

Das Radio ist nun seit Jahrzehnten kein wirksames Forum der Literatur mehr. Es fehlen ihm die geeigneten Sprecher und Beiträger, die etwas von Literatur verstehen und Meinungsvielfalt in dieser Sache pflegen. Nicht zuletzt hat sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen beamtenartigen Angestellten, ein parteipolitisch gesteuerter, durch Zwangsgebühren finanzierter Konzern, als unerträglicher Anachronismus erwiesen, bei dem mitzuarbeiten zwar Honorar, aber kein Ansehen einbringt.

♦ Der dritte Faktor für das Ausbleiben bedeutender Literatur ist der wichtigste, der ausschlaggebende Grund. Es fehlt an literarisch begabten Menschen; wir leben in einer Epoche, die keine großen dichterischen Talente vorzuweisen hat. Arno Schmidt, Andersch, Koeppen, Böll, Lenz, Frisch, Dürrenmatt, Grass — eine wahrhaft stolze Riege — haben keine Nachfolger gefunden. Man mag darauf hinweisen, daß es auf dem Gebiet der Malerei, der Musik, selbst des Films, nicht anders sei. Doch ist dies keine Erklärung für die literarische Unproduktivität und Belanglosigkeit dieser Zeit.

Adorno weist in einem Vortrag über die „Krisis der Literaturkritik“ (1952) darauf hin, daß eine wirkungsvolle Literaturkritik von dem objektiven Geist der Epoche abhänge, von den geistigen Strömungen und den gesellschaftlichen Tendenzen der Zeit. Er meint, angesichts der realen Mächte der Geschichte ahne man, daß alles was unter dem Namen der Kultur weiter betrieben werde, gleichgültig sei, d.h. ohnmächtig und wirkungslos.

Auf unsere Gegenwart angewandt, besagt diese Überlegung, daß die Zeitgenossen, die öffentliche Meinung, im Grunde auch der Kulturbetrieb selbst, keinen Bedarf an Literatur haben. Dabei setzt man den doch etwas einfachen Gedanken voraus, daß dort keine Romane geschrieben werden, wo nicht nach ihnen gefragt und verlangt werde. Dies aber hängt wiederum mit dem Rückgang der Bildung und ihrem Niveauverlust in der Massengesellschaft zusammen.

Dies mag zum Teil sicher stimmen, doch letztlich erscheint mir diese Antwort nicht befriedigend, und ich denke, daß man einfach nicht weiß, wann und warum es Blütezeiten der Literatur gibt und wann nicht. Im übrigen haben wir eine reiche Tradition von Romanen, von denen wir nicht mal die besten alle lesen können. Freilich bleibt der Wunsch der Zeit unerfüllt, die nach dem Wort Ezra Pounds „ein Bildnis ihrer hektischen Grimasse“ verlangt.

J.Q. — 31. Okt 2022

© J.Quack


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