Josef Quack

Amerikanische Gangster
"Die Brüder Rico"





Die Brüder Rico (dt. Elisabeth Serlemann-Küchler. München 1966; Les frères Rico 1952) sind ein Roman, den man erst aus der Hand legt, wenn man ihn ganz gelesen hat. Es ist ein fesselnder, flüssig geschriebener Unterhaltungsroman, über den ein Besucher Simenons treffend schrieb: „Ich las im Zug Les frères Rico, den er mir gegeben hatte. Man würde sagen, daß es sich um eine Übersetzung des amerikanischen Romans handle: Atmosphäre, Personen, Orte, selbst die Intrige. Das könnte eine Schwarze Serie sein.“ (Pierre Assouline, Simenon. Paris 1996, 746).

Es ist ein schlanker, konventioneller Kriminalroman, unbeschwert von tieferen Gedanken, eingehenden Milieuschilderungen oder genauerer Personenzeichnung. Der Focus ist nahezu auschließlich auf die Handlung gerichtet, ihren gradlinigen Verlauf und ihre fatale Zwangsläufigkeit, ein Drama der Fakten ohne geistigen Tiefgang, ein Roman, den man kaum zur Klasse der ernsten Romane Simenons rechnen kann, was sich schon daraus ergibt, daß man ihn wohl nicht zweimal lesen würde. Damit will ich ihm aber keineswegs den Charme der Unterhaltungsliteratur absprechen, die ich gewiß nicht verachte, gibt es doch manchmal Situationen, wie zum Beispiel eine Zugfahrt, wo einem nach leichter Lektüre zumute ist, nach Entspannung durch einen spannenden Roman.

Joseph, genannt Eddie, Rico ist der älteste der drei italienisch stämmigen Brüder Rico, die in Brooklyn aufgewachsen sind, wo ihre Eltern einen Gemüseladen unterhielten. Ihr Vater wurde erschossen, als ein Gangster in ihrem Laden Zuflucht suchte; ihre Mutter hatte ihn geistesgegenwärtig vor der Polizei versteckt. So ergab sich für Eddie und seine jüngeren Brüder Gino, der Killer wurde, und Tony, einen Fahrer, eine Beziehung zu Gangsterbanden. Eddie hatte sich in Südflorida etabliert, wo er den Wettbetrieb überwacht.

Als Tony sich eines Tages mit seiner Frau absetzt, entsteht für die Organisation eine brenzlige Lage, weil ein Gerücht meldet, daß Tony möglicherweise als Kronzeuge gegen die Bande aussagen würde. Deshalb erhält Eddie einen Auftrag, den er nicht ablehnen kann: er soll herausfinden, wo Tony sich aufhält. So fliegt er nach New York zu seiner Mutter, dann nach Pennsylvanien, wo Tonys Schwiegervater eine kleine Farm bewirtschaftet; von hier auf einer verwickelten Flugroute nach Südkalifornien, wo Tony im Gemüseanbau eine Tätigkeit gefunden hat. Eddie wird überall von Leuten der Organisation beschattet. Am Ende steht er vor der Entscheidung, ob er Tony retten kann oder sich der Gewalt der Gangster beugen muß.

Selbstverständlich kann Simenon selbst bei einem konventionellen Kriminalroman seine Künste als Romancier nicht ganz verleugnen. Sie zeigen sich fast in reiner Form bei der atmosphärisch dichten Schilderung der Szene, wo Eddie sich mit Tony auseinandersetzt und sich in dem heißen Klima von ihm verabschiedet: „Ihm war, als hörte er irgendwo einen Motor anspringen. Auf den Feldern war nichts zu sehen. Ein Haus versperrte den Blick auf einen Teil der Straße. / Beinahe hätte er den Chauffeur gefragt, doch dazu fehlte ihm der Mut. Nie in seinem Leben hatte er eine solche Leere in Körper und Kopf verspürt. Die Luft im Taxi war überhitzt, und als sie jetzt durch die Sonne fuhren, bekam er plötzlich Ohrensausen.“ (S.118)

Die „Leere“ ist bekanntlich ein Leitmotiv in Simenons Gedankenwelt. Sie steht als Metapher gewöhnlich für die Erfahrung der existentiellen Isoliertheit und Einsamkeit des Menschen, für die Erfahrung der absoluten Sinnlosigkeit (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.17). Hier wird das Wort fast wie nebenbei nur für das körperlich schlechte Befinden der Person, für einen leichten Schwindel verwendet, ohne daß die moralische oder existentielle Bedeutung des Wortes erwähnt würde. – Man könnte meinen, Simenon halte es geradezu für unschicklich, einen Unterhaltungsroman mit ernsteren Überlegungen zu belasten. Eine Art Verneigung vor dem Vergnügungsbedürfnis von Lesern, die leichte Lektüre bevorzugen.

Alles in allem, Die Brüder Rico sind eine ausgezeichnete Vorlage für einen Actionfilm, und der Roman wurde auch bald nach seinem Erscheinen verfilmt, aber leider von einem unbekannten amerikanischen Regisseur und mit namenlosen Schauspielern.

J.Q. — 26. Jan. 2023

© J. Quack


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