Josef Quack

Über den öffentlich-rechtlichen Anachronismus




Der Worte sind genug gewechselt,
laßt mich auch endlich Taten sehen!

J.W. Goehte

Die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks entstammt dem Geist der Reeducation des Nachkriegs. Der nationalsozialistischen Indoktrination und menschenverachtenden Volkserziehung des Dritten Reiches wollte man die demokratische Belehrung und die rechtstaatliche Volkserziehung entgegensetzen (cf. J.Q. Volksempfänger). Diese gutgemeinte Konzeption hatte aber den nicht zu übersehenden Geburtsfehler, daß man die Bürger, den sogenannten Mann auf der Straße, das einfache Volk, letztlich als unmündig betrachtete, als Menschen, die politisch-moralisch erzogen werden müßten. Daß etwa der erste Intendant des ZDFs kein Publizist oder Medienexperte war, sondern ein Pädagogik-Professor, war kein Zufall.

Die geistige Bevormundung des Bürgers schlug sich dann auch darin nieder, daß er das Instrument seiner Erziehung, den öffentlich-rechlichen Rundfunk, durch Zwangsgebühren finanzieren mußte.

Vierzig Jahre, nachdem der private Rundfunk und das Privatfernsehen eingeführt wurden, und dreißig Jahre, nachdem das Internet sich durchsetzte und die Medienlandschaft gewaltig veränderte, eine weltweit agierende Unterhaltungsindustrie sich etablierte mit der Folge, daß auch das öffentlich-rechtliche Mediensystem hierzulande primär der Unterhaltung dient, da das Fernsehen nun mal seinem Wesen nach ein Medium der Unterhaltung ist, hat sich doch in diesem System das Moment der Bevormundung des Bürgers erhalten.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk Deutschlands, der größte Medienkonzern Europas, verbreitet wie das Privatfernsehen hauptsächlich Unterhaltung, wird aber durch Zwangsgebühren finanziert. Durch die Zwangsgebühren werden aber die Grundrechte, die Persönlichkeits- oder Freiheitsrechte des Bürgers als homo oeconomicus empfindich eingeschränkt. Er kann das öffentlich-rechtliche Radio- und Fernsehmedium weder wählen noch abwählen wie ein Magazin, eine Zeitung oder einen Privatsender. Er hat keinerlei Einfluß, weder der Zustimmung noch der Kritik, auf das öffentlich-rechtliche Unwesen. Er muß zahlen, selbst wenn er überhaupt kein Fernsehen benutzt; er muß die unsäglichsten Sendungen, wie etwa das geschmacklose, gräßliche Schmähgedicht vor einigen Jahren, widerspruchslos hinnehmen.

Wie kommt es aber, daß sich dieses System der Bevormundung des Bürgers bis heute erhalten hat – trotz der Medienvielfalt und des unüberschaubaren Angebots von Unterhaltung? Offensichtlich doch deshalb, weil die politischen Parteien dieses System über die Rundfunkräte kontrollieren und beherrschen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein Medium der politischen Parteien. Sie bestimmen die Intendanten und Direktoren der Sender, und die Landesregierungen nutzen die Dritten Programme zur Selbstdarstellung. Es ist aber evident, daß es nicht die Aufgabe einer quasistaatlichen Institution sein kann, für die Unterhaltung der Bürger zu sorgen.

Im Hessischen Rundfunk gibt es sonntags eine dreistündige Hitparade der Schlager, eine dreistündige, durch Zwangsgebühren finanzierte Reklame für die Musikindustrie – was einfach absurd ist. Während sonst die Firmen für ihre Reklame im Radio oder Fernsehen selbst zahlen müssen, zahlt hier der Hörer für die Reklame der Musikfirmen.

Was die deutsche Filmindustrie angeht, so hat man den Eindruck, daß sie ihre ganzen, freilich nur spärlich vorhandenen Regie- und Darstellungskünste in den "Tatort" steckt. Statt spannende, intelligente und amüsante Spielfilme für den freien Kinomarkt zu produzieren, lebt sie von der Herstellung einer Uraltserie, deren Fortbestand sozusagen staatlich garantiert ist.

So ist es ein unerwartetes Zeichen politischer Vernunft und höchst erfreulich, daß ein ostdeutsches Bundesland sich weigert, der Gebührenerhöhung der Öffentlich-Rechtlichen zuzustimmen, und erfreulich ist, daß einige Parteipolitiker ernsthaft über eine Neuorganisation jenes Mediensystems nachzudenken beginnen. Sie wolllen dessen Aufgabe auf Sendungen beschränken, die nicht primär der Unterhaltung dienen. Freilich, die beste, einfachste und sauberste Lösung wäre eine Privatisierung der öffentlich-rechtlichen Sender. Man hat die Bahn und die Post, wahrlich lebenswichtige Institutionen, schon vor Jahren privatisiert, nicht aber ein Mediensystem, das seine raison d'être, seine Existenzberechtigung, mit der Einführung des privaten Fernsehens vor vierzg Jahren verloren hat.

Hier ist es aufschlußreich, sich an den Vorschlag Helmut Schmidts zu erinnern, der als Bundeskanzler riet, „jede Familie möge wenigstens einen Tag in der Woche den Fernseher ausgeschaltet lassen“. Er machte dabei die Voraussetzung, daß „der Bildschirm sich als Erziehungsfaktor gleichberechtigt neben Eltern und Schule breitgemacht“ habe (Weggefährten 1998, 247). Dabei fällt dreierlei auf: Er geriert sich als moralischer Lehrmeister der Nation, was ganz gewiß nicht die Sache eines Regierungschefs sein kann. Freilich gestand er, daß er gerne unerbetene Ratschläge gebe. Zweitens äußerte er seine Empfehlung zu einer Zeit, wo es noch kein Privatfernsehen gab. Er kam aber nicht auf den Gedanken, daß es nicht die Aufgabe einer quasistaatlichen Institution sein könne, ein Medium zu betreiben, das einen in geistiger Hinsicht derart schädlichen Einfluß ausübt. Drittens hat er die erzieherische Wirkung des Fernsehens überschätzt, ganz davon abgesehen, daß die Jugendlichen nicht zu der Gruppe gehören, die die längste Zeit vor dem Fernseher verbringt.

Adorno schreibt zu dem Problem im allgemeinen: „Die Frage, was die Kulturindustrie den Menschen antue, ist wahrscheinlich allzu naiv, ihr Effekt weit unspezifischer, als die Form der Frage suggeriert. Die leere Zeit wird mit Leerem ausgefüllt, nicht einmal falsches Bewußtsein produziert, nur bereits vorhandenes mit Anstrengung so gelassen, wie es ist“ (Ästhetische Theorie 1970, 365). Das Fernsehen als ein nichtiges Medium, die Langeweile zu vertreiben.

Übrigens zog Adorno in einem Rundfunkvortrag die folgende, unverändert aktuell gebliebene Lehre aus dem menschenverachtenden Unrechtsregime der Nationalsozialisten. Er verurteilt jede Verherrlichung und Überbewertung eines Kollektivs, welcher Art es auch sei, und plädiert für den unbedingten Primat des Einzelnen in Staat und Gesellschaft. Er betont damit gerade die unantastbare Mündigkeit des Staatsbürgers: „Kritisch zu behandeln wäre ein so respektabler Begriff wie der der Staatsräson: indem man das Recht des Staates über das seiner Angehörigen stellt, ist das Grauen potentiell schon gesetzt“ (Stichworte 1969, 101). Mit dem Grauen meint er Verbrechen im Namen des Staates.

J.Q. — 27. Feb. 2021

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