Josef Quack

Nachspiel einer Fahrerflucht
"Die Fräulein von Concarneau"




Es ist mehr als ärgerlich, nämlich skandalös und streng zu tadeln, daß die deutsche Übersetzung von Les démoiselles de Concarneau (1935) einen falschen und irreführenden Titel hat: Die bösen Schwestern von Concarneau (Dt. Ingrid Altrichter. Hamburg 2020). Diese Schwestern sind nicht nur kluge Jungfrauen im biblischen Sinne, sondern auch rechtschaffen in einem moralischen Sinn. Wenn einer moralisch böse ist, dann ihr Bruder, die Hauptperson des Romans, der einen Jungen überfährt, Fahrerflucht begeht und dann allen Ernstes daran denkt, die Mutter des toten Kindes zu heiraten.

Der falsche Titel scheint auf die mißverstandene Bemerkung zurückzugehen, daß die Geschwister sich eine Zeitlang insofern „böse“ sind, als sie ein bestimmtes Verhalten übelnehmen (S.166). „Jemand böse sein“ ist aber eine harmlose Redensart, die eine psychologische, keine moralische Bedeutung hat. Abgesehen von dem falschen Titel scheint die Übersetzung auch sonst nicht ganz zuverlässig zu sein, was wiederum belegt, daß man das Werk Simenons in Deutschland immer noch nicht mit dem ihm gebührenden Respekt behandelt.

Dieser Roman gehört zu jenen moralischen Geschichten Simenons, die mit einer Katastrophe beginnen und dann erzählen, wie die Akteure mit diesem Ereignis und seinen Folgen fertig werden. Jules Guérec, 40 Jahre alt, ist Kapitän eines Fischereibetriebs mit drei Thunfisch-Kuttern, der ihm und seinen drei Schwestern gehört: Françoise, die sich um den Haushalt kümmert, Céline, die die Buchhaltung besorgt, und Marthe, die mit Emil Gloaguen verheiratet ist, dem Sekretär des Polizeikommissariats.

Eines Tages im November kommt Guérec, der erst seit acht Tagen den Führerschein besitzt, verspätet von Quimper zurück, wo er beruflich zu tun und überdies eine Dirne besucht hatte. In Gedanken beschäftigt, wie er die ungewöhnliche Ausgabe von 50 Francs erklären könnte, und bei schlechtem Licht überfährt er einen Jungen, ohne anzuhalten und zurückzukehren. Der sechsjährige Junge, uneheliches Kind von Marie Papin, 22 Jahre alt, Arbeiterin in einer derzeit geschlossenen Konservefabrik, stirbt nach wenigen Tagen.

Guérec stellt Philippe Papin, den tauben und geistig behinderten Bruder von Marie, als Wache auf seinem Kutter ein, um auf diese Art Kontakt zu seiner Schwester aufzunehmen. Obwohl sie ihn nicht freundlich behandelt, macht er ihr schließlich einen Heiratsantrag. Céline, die inzwischen aus dem Verhalten ihres Bruders erraten hat, daß er den Jungen überfahren hat, bietet der Mutter 8.000 Francs an, wenn sie auf alle Forderungen gegenüber der Familie Guérec verzichtet. Als Jules von dieser Abmachung erfährt, schlägt er Céline heftig ins Gesicht und beginnt in der Wohnung zu toben. Er beruhigt sich bald, packt aber seinen Koffer und fährt nach Rennes.

Die Familie entschließt sich wenig später, den Fischereibetrieb und das Haus zu verkaufen. Sie bewohnen zuerst ein Landhaus, das sie mit dem Gut übernehmen, lassen sich dann in Rouen nieder, wo sie eine unrentable Reederei erwerben, um schließlich in Versailles sich in eine Versicherung einzukaufen. Nachdem Françoise gestorben ist, lebt Jules einträchtig mit Céline zusammen, in dem Gedanken, daß er vielleicht als alter "Onkel" nach Concarneau zu Marthe zurückkehren werde.

Jules Guérec wird als ein Mann geschildert, der mit seinem bequemen Leben zufrieden ist und sich über die kleinen Annehmlichkeiten des Alltags freut. Genau betrachtet, zeugt seine Haltung gegenüber Marie Papin, der er in ihrem Unglück helfen will, ohne ihr seine Schuld einzugestehen, von einer gewissen Naivität. Er scheint sein mitleidiges Verhalten nicht klar durchdacht zu haben. Céline sieht in dieser Einstellung allerdings reinen Zynismus und wirft ihm mit Recht vor: „Du, der Mann, der ihren Sohn getötet hat, du setzt dich an ihren Tisch, du treibst diesen Zynismus so weit, daß du dem anderen Kind Schokolade und Spielsachen mitbringst … Ich frage mich, ob du noch ganz bei Sinnen bist … Du willst sie also zu deiner Frau machen, obwohl du ihren Sohn getötet hast?“ (S.133f.)

Als er sich besonnen hat, muß er annehmen, daß Marie ihn abweisen würde: „Hatte er nicht ihren Sohn überfahren? Hatte er sie nicht danach hintergangen? Wer weiß, ob sie nicht glaubte, er hätte ihr nur den Hof gemacht, um nicht zahlen zu müssen.“ (S.154) Damit ist die Hauptfrage der Geschichte umschrieben: Wie Guérec mit den moralischen und menschlichen Folgen seiner schuldhaften Tat fertig wird.

In diesen Zusammenhang spielt die weitere Frage hinein, ob diese Ereignisse vom Schicksal vorherbestimmt sind. Doch wird diese Auffassung nicht vom Erzähler, sondern von Romanpersonen vertreten. Ihrer Meinung nach sieht es so aus, als ob Marie Papin nie Glück gehabt habe (S.101) und daß sie in ihr Schicksal ergeben sei (S.90). Freilich lag es an ihr selbst, daß sie uneheliche Kinder hat.

Guérec scheint sich in seinen nicht ganz konsequenten Überlegungen den Unfall ebenfalls als eine Fügung des Schicksals zurechtzulegen: „Welche Verkettung von Zufällen hatte es bedurft, bis das passierte! Daß Guérec sich verspätet hatte, und allem voran, daß Céline auf die Idee verfallen war, ein Auto zu kaufen!“ (S.110f.) Und schließlich: „Es wäre nichts geschehen, wenn Guérec nicht eines Abends nach der Versammlung des Fischereiverbandes in den Straßen von Quimper einer Frau gefolgt wäre und wenn er auf der Heimfahrt nicht ein Kind …“ (S.177).

Wie man sieht, besteht diese Ereignisfolge aber nicht aus vorbestimmten, objektiv determinierten Elementen, sondern aus frei vollzogenen Handlungen Guérecs, wie denn auch sein späteres Verhalten gegenüber Marie Papin durchaus nicht zwangsläufig ist.

In Rennes angekommen, schreibt er an Marie einen Brief, den er nicht abschickt, der jedoch seine beste, wenn auch nicht realisierbare Absicht verrät: „Ich hoffte so sehr, ich könnte meine unfreiwillige auf mich geladene Schuld dadurch tilgen, daß ich Sie sowie den kleinen Edgard glücklich mache.“ (S.156) Damit aber wird auf einen Gedanken angespielt, der eine Lebensmaxime des Autors enthält: „Wenn es jedem Menschen gelänge, nur einen anderen Menschen glücklich zu machen, dann würde die ganze Welt das Glück kennenlernen.“ (Intime Memoiren 1982, 435) Simenon hat diese Idee als Grundlage und Erzählprinzip der Geschichte des Großen Bob (1954) in extenso ausgeführt.

Eine Frage läßt der Roman offen: Ob Emil Gloaguen als Polizeibeamter nicht verpflichtet wäre, seinen Schwager anzuzeigen und juristisch zu belangen, nachdem er von dessen Fahrerflucht erfahren hatte. Er selbst stellt später, als Guérec nach Rennes gefahren ist, diese Frage; es ist aber seltsam, daß er sie verneint: „Meine Lage ...Die Pflicht auf der einen Seite und die Familie auf der anderen“ (S.163).

Formal betrachtet, ist der Text zum guten Teil ein Reflexionsroman mit Überlegungen und Vermutungen Guérecs, in erlebter Rede und stillem Selbstgespräch überaus fesselnd wiedergegeben. Daneben finden sich farbige Personenzeichnungen, besonders das lebendige Porträt des gutmütigen Halbnarren Philippe. Dem seelischen Drama steht die sachkundige Schilderung eines Fischzugs während des Winters gegenüber, ein wunderbares Seestück von der atlantischen Küste, ein großartiges Kapitel handfester Wirklichkeit, das Simenon auf der Höhe seiner realistischen Kunst zeigt, mit wenigen Worten die handlungsreichste Szene sinnfällig zu beschreiben.

Simenon hat das Thema der Fahrerflucht und ihrer Folgen in der düsteren Tragödie der Komplizen (1955) wieder aufgegriffen, ebenfalls eine zutiefst moralische Geschichte (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten, S.42ff.)

© J.Quack — 21. März 2023


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