Josef Quack

Über das Scheitern in der Kunst




Einst warf man einer Löwin vor, sie bringe nur ein Junges zur Welt. Sie erwiderte: "Aber einen Löwen!"

Aisopos

... mediocrbus esse poetis
non dii, non homines, non concessere columnae.
(Mittelmäßig zu sein, haben den Dichtern nicht die Götter, noch die Menschen und auch nicht die Werbesäulen zugestanden.)

Horaz

Bazon Brock, vor Jahrzehnten ein rühriger Aktionskünstler und nimmermüder zungenfertiger Kunsttheoretiker, äußerte einmal in einer öffentlichen Diskussion eine sehr ernüchternde, aber immer aktuelle, überaus denkwürdige Einsicht, die Bände gelehrter Ästhetik, einschließlich seiner eigenen Werke, mehrfach aufwiegt. Er sagte: „In der Kunst ist Scheitern der Normalfall“.

Der Gedanke ist keineswegs neu, wohl aber die radikale Formulierung. Es ist die schonungslose Folgerung aus der bekannten Tatsache, daß große Kunstwerke äußerst selten sind. Also ist die Masse der übrigen Werke, streng genommen, nicht recht gelungen, allenfalls Konvention und Mittelmaß, meist aber nicht der Rede wert. Brocks auf Beobachtung gestützte These wirkt aber deshalb so provokativ, weil die Agenten des Literaturbetriebs uns das Gegenteil weiß machen wollen, daß wir nämlich in einer Zeit lebten, die sozusagen am laufenden Band große oder doch lesenswerte Werke hervorbringe. Fast jeden Tag oder jede Woche werden in den Zeitungen Romane und andere Dichtungen angepriesen als neuartige Werke der Branche, die man unbedingt kennen müsse. In Wirklichkeit überleben diese Neuerscheinungen kaum die eigene Saison, und infolge einer Rezensionspraxis, die sich von Reklame nicht mehr unterscheiden läßt, ist die „Neuerscheinungsliteratur“ längst zu einem Schimpfwort geworden (cf. Wo ist die Literatur der Gegenwart geblieben?).

Vollkommene Kunstwerke zeichnen sich durch einen Faktor aus, der nicht in der Macht des Künstlers liegt und nicht von ihm absichtlich erstrebt werden kann: Sie sind geglückt. Dieses Moment des glücklichen Gelingens meint auch Adorno, wenn er schreibt: „Die großen Kunstwerke sind jene, die an ihren fragwürdigen Stellen Glück haben“ (Noten zur Literatur I. Frankfurt 1965, 102). Wenn er im folgenden einfach von Kunstwerken spricht und den Aspekt des objektiven Gelingens betont, der über die Intention des Autors hinausgeht, hat er natürlich die großen Kunstwerke im Auge. Er spricht von authentischen Kunstwerken, die allein diesen Namen verdienen: „Kunstwerke sind das Gemachte, das mehr wurde als nur gemacht“ (Ästhetische Theorie. Frankfurt 1970, 267).

Der französische Philosoph Alain hat überdies die kluge Beobachtung mitgeteilt, daß selbst die Absicht des künstlerischen Schaffens nicht allein vom Autor bestimmt ist: „Die wirklichen Pläne gedeihen erst auf der Grundlage des begonnenen Werkes … eben das ist Malen, nämlich in dem, was man gemacht hat entdecken, was man machen will“ (Die Pflicht, glücklich zu sein. Frankfurt 1982, 128).

Mit diesen andeutenden Überlegungen wird ein Problem berührt, das Karl Popper das Problem „der Unabhängigkeit des Kunstwerks“ genannt hat, seine Autonomie gegenüber seinem Schöpfer: „die Tatsache, daß es, obwohl Menschenwerk, seine eigene Beziehungen schafft.“ Dieses Moment wird durch „eine wunderschöne Geschichte über Haydn“ bestätigt: „Als er den ersten Chor seiner 'Schöpfung' hörte, brach er in Tränen aus und sagte: 'Das habe ich nicht geschrieben'“ (Objektive Erkenntnis. Hamburg 1995, 186). D.h. wenn Künstler über ihr eigenes Werk erstaunt sind und Autoren mit Wohlgefallen ihre eigenen Romane lesen, so muß das kein Ausdruck der Eitelkeit und Selbstbewunderung sein – sie bewundern vielmehr im Werk, was nicht intendiert war: den Überschuß des Geglückten.

Selbst ein so nüchterner Autor wie Raymond Chandler bestätigt, daß ein gelungenes Werk ein Moment der Selbständigkeit gegenüber seinem Schöpfer enthält, und genau dieser unpersönliche Charakter kann selbst den Autor faszinieren: „Ob ich meinen eigenen Kram lese, wenn er erschienen ist? Ja, und auf die sehr große Gefahr hin, als egoistisches Rindvieh dazustehen, muß ich sagen: ich finde es verteufelt schwer, das Ding dann wieder aus der Hand zu legen. Selbst ich, der doch alles schon weiß, was passiert. Es muß am Ende doch so etwas wie ein magischer Zauber im Stil stecken, aber den nehme ich nicht als mein Verdienst in Anspruch.“ (Die simple Kunst des Mordes. Dt. H. Wollschläger. Zürich 1975, 280)

Nach all der Erfahrung in der Kulturgeschichte kann man sagen, daß es in der Natur der Sache liegt, daß es nur wenige vollkommene, restlos geglückte Kunstwerke gibt, und daß folglich der Autor sich vielfach vergebens bemüht. Gottfried Benn hat darin in seiner berühmten Rede über „Probleme der Lyrik“ (1951) „eine tragische Erfahrung der Dichter“ gesehen und zu unserem Thema präzis erklärt: „Keiner auch der großen Lyriker unserer Zeit hat mehr als sechs bis acht vollendete Gedichte hinterlassen, die übrigen mögen interessant sein unter dem Gesichtspunkt des Biographischen und Entwicklungsmäßigen des Autors, aber in sich ruhend, aus sich leuchtend, voll langer Faszination sind nur wenige – also um diese sechs Gedichte die dreißig bis fünfzig Jahre Askese, Leiden und Kampf.“ (Essays und Reden. Frankfurt 1989, 514)

Freilich wird die Rede durch eine Behauptung eingeleitet, die dieser These zu widersprechen scheint. Benn wendet gegen die populäre Meinung, daß ein Gedicht aus einer melancholischen Stimmung entstehe, ein: "Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten - ein Gedicht wird gemacht" (l.c. 505f.). Dieser Einwand ist nicht absolut zu verstehen, er verweist nur auf die schöpferische Tätigkeit, die Mühe der Formgestaltung, der Wortwahl, der Reimfindung. Daß ein Gedicht nicht nur gemacht wird, sondern, wie Adorno schreibt, mehr ist als ein gemachtes Gebilde, bestätigt Benn in derselben Rede. Er erzählt von einem zweistrophigen Gedicht, zu dem er erst nach zwanzig Jahren des Suchens und Prüfens die zweite Strophe gefunden habe. Es mußte die Inspiration hinzuommen, "eine innere Stimme, die niemand hört" (l.c. 522f.).

Die programmatische Aussage, daß ein Gedicht gemacht werde, hatte jedoch auf die damalige Literaturszene eine verheerende Wirkung. Es wurden fleißig Gedichte gemacht, von denen kaum eines gelungen ist. Es erschienen Anthologien mit pseudo-surrealistischen, pseudo-prophetischen, pseudo-hermetischen Poemen und Sprüchen, die größtenteils völlig wertlos waren. Diese belanglose Dichtung war dann einer der Gründe für die Politisierung der Literatur, ein berechtigter Protest, der nach 1968 allerdings in die Verneinung der Literatur an sich umschlug.

Bei Benns kühler, anscheinend doch recht magerer Bilanz des dichterischen Schaffens sollte man aber den Gedanken nicht übersehen, daß selbst der größte Dichter seine vollendeten Gedichte nicht hätte schaffen können, wenn er nicht die vielen Versuche gemacht hätte, die nicht gelungen sind. Das ist sozusagen die positive Seite des Scheiterns in der Kunst.

Damit ist auch ein Ansatz gegeben, wie man sich das stupende Werk des produktivsten Romanciers des 20. Jahrhunderts erklären kann, Georges Simenon, der hundert „harte“, echte Romane und siebzig Detektivromane mit Maigret geschrieben hat. Die Erklärung lautet, daß er die Romane, die nicht nur in seinem Werk, sondern in der Literatur seiner Zeit hervorragen, nur schreiben konnte, weil er die vielen anderen Romane gleichsam als Vorstudien oder Varianten geschrieben hat, darunter nicht wenige Meisterwerke zweiten Ranges. Die Maigrets aber dienten dazu, Themen extremen Schreckens zu behandeln, die sich im psychologischen Roman nicht darstellen lassen. Seine großen Romane aber sind: Der Schnee war schmutzig (1948), über Verbrechen im politischen Zwielicht, Der Sohn (1956), das tragische Gegenteil eines modischen Generationenkonflikts, Der Präsident (1957), das geistige Problem der politischen Macht, Die Glocken von Bicêtre (1962), das Wunder des erwachenden Bewußtseins, die Fragwürdigkeit gesellschaftlichen Erfolgs, Der kleine Heilige (1964), ein Lob der Menschlichkeit (cf. J.Q., Über Simenons traurige Geschichten).

Was die deutsche Szene angeht, so hat Hemingway über Thomas Mann geurteilt: „Er wäre ein großer Schriftsteller, wenn er nichts anderes geschrieben hätte als die Buddenbrooks.“ (T. Mann, Tagebuch 25.XI.1935) Ich würde dem noch den „Tod in Venedig“ hinzufügen, keinesfalls aber den Doktor Faustus, eine gequälte Prosadichtung mit einem historisch längst überholten Thema des 19. Jahrhunderts, dem Antagonismus von Künstler und Gesellschaft (cf. J.Q., Lesen um zu leben S.90ff.). Heinrich Manns bleibende Romane sind zweifellos Professor Unrat (1905) und der Untertan (1916), der ewig aktuelle Roman über die Knechtseligkeit der Deutschen. Bemerkenswert an dem Henri Quartre (1935/38) ist die glaubhafte Darstellung sinnlichen Glücks, ein seltener literarischer Artikel, den man bei Thomas Mann vergebens sucht.

Zum Kanon der literarischen Moderne deutscher Zunge würde ich Kafkas Prozeß und Joseph Roths Hiob (1930) rechnen (cf. J.Q., Lesen um zu leben S.9ff.). Musils Hauptwerk bedarf keiner besonderen Erwähnung. Ernst Jüngers In Stahlgewittern (1920), Auf den Marmorklippen (1939) und seine Strahlungen (1949), das Tagebuch über den Zweiten Weltkrieg, sollte man nicht vergessen.

Alfred Döblin brilliert in drei Gattungen. Er hat den bedeutendsten deutschen Großstadtroman geschrieben, Berlin Alexanderplatz (1929), den sprachmächtigsten deutschen Geschichtsroman, der in die Weltliteratur eingegangen ist, Wallenstein (1920), als dessen Strukturprinzip die filmische Montage eingeführt wird, und den phantasievollsten, intelligentesten deutschen Zukunftsroman, Berge, Meere und Giganten (1924). Hier wird übrigens das Abschmelzen der Grönlandgletscher beschrieben, was inzwischen Wirklichkeit geworden ist (cf. J.Q., Geschichtsroman und Geschichtskritik). Döblins später Hamlet-Roman ist insofern originell, als darin die Frage nach der moralischen Schuld am Krieg aufgeworfen und für Redlichkeit in existentiellen Dingen plädiert wird (cf. J.Q., Diskurs der Redlichkeit).

Mit Elias Canetti haben wir den singulären Fall vor uns, daß ein Autor mehrere Romane geplant, aber nur einen ausgeführt hat: Die Blendung (1935), eine großartige Prosadichtung über Stolz und Elend des Intellektuellen. Er wollte ursprünglich eine "Comédie Humaine" in acht Romanen verfasssen. Ein scharfer Kritiker seiner selbst, sah er jedoch "die Maßlosigkeit seines Unternehmens" ein und erkannte, daß er den magistralen Wurf der Blendung nicht mehr wiederholen oder übertreffen konnte (Die Fackel im Ohr. Frankfurt 1982, 340).

Es fällt auf, daß vier der bedeutendsten Romanciers der Moderne deutscher Zunge jüdische Autoren waren: Kafka, Döblin, Roth, Canetti. Während Kafka, Roth und Canetti das reinste Deutsch schrieben, beherrschte Döblin das lebendigste und umfassendste Wort- und Satzregister. Deshalb hat Arno Schmidt ihn über alles geschätzt und ihn den "Kirchenvater der neuen deutschen Literatur" genannt (Briefwechsel mit Kollegen. Frankfurt 2007, 42). Hinzu kommt, daß Döblin, vor allen Erzähltheoretikern und Poetologen, die besondere Grammatik des Erzählens erkannt hat. Das ausgeprägte Sprachbewußtsein und die Sprachbegabung jener Romanciers ist ein geistesgeschichtliches Phänomen, dessen Gründe bis heute nicht erforscht sind.

Auch die deutsche Nachkriegsliteratur hat, was uns im Rückblick und im Hinblick auf heute erstaunlich vorkommt, doch eine Reihe nennenswerter Romane aufzuweisen. Von Arno Schmidt würde ich die frühen Kurzromane und Erzählungen nennen: Brand’s Haide (1947), Leviathan (1947) und Schwarze Spiegel (1951). Über Zettels Traum (1970) und die anderen Spätwerke im Riesenformat kann ich nichts sagen, weil ich sie nicht gelesen habe und die Verehrer Schmidts auch nichts wirklich Überzeugendes darüber zu sagen wußten.

Wolfgang Koeppen hat mit seinen drei Romanen Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Der Tod in Rom (1954) eine schonungslose Beschreibung des deutschen Nachkriegs geliefert, der geistigen Verfassung und der politischen Situation (cf. J.Q., Wolfgang Koeppen). Eine verblendete Kritik hat ihm dann bis ans Ende seines Lebens vorgehalten, daß er keine weiteren Werke dieses Ranges geliefert habe, als genügte es nicht, drei Romane geschrieben zu haben, die, was die erzählerische Qualität und den intellektuellen Gehalt angeht, die meisten Produktionen der folgenden Jahrzehnte überragen.

Was das reiche Schaffen Heinrich Bölls angeht, so halte ich Wo warst du, Adam? (1951), einen Roman über moralisches Verhalten im Krieg, erzähltechnisch und thematisch für seinen besten Roman, nicht das Gruppenbild mit Dame (1971) wegen der allzu konstruierten Legendenfigur im Mittelpunkt. Fürsorgliche Belagerung (1979) wäre auch zu erwähnen wegen der atmosphärisch starken Schilderung eines historischen Krisenmoments der Bundesrepublik (cf. J.Q., Christliche Literatur im 20. Jahrhundert).

Von Günter Grass werden meines Erachtens der erste und der letzte Roman bleiben, die Blechtrommel (1959) und das Weite Feld (1995), die skeptische Prosabilanz über die Vereinigung Deutschlands. Siegfried Lenz' Deutschstunde (1968) bleibt lesenswert, die Geschichte eines umstrittenen Malers im Zwangsverband der NS-Gesellschaft vor dem ländlichen Hintergrund Nordeutschlands, ein Roman, dessen Qualität zur Zeit seiner Publikation von der damals die kulturelle Meinung beherrschenden Neuen Linken sträflich verkannt wurde (cf. J.Q., Lesen um zu leben).

Nicht zu vergessen wären die Kirschen der Freiheit (1952), ein Roman, in dem Alfred Andersch die Desertion aus der Wehrmacht als Erlebnis der existentiellen Freiheit darstellt. Damit hatte er sich die Gunst der konservativen Öffentlichkeit der Restaurationsepoche verscherzt. Er bekam niemals den Büchnerpreis, obwohl sein Roman die einzige Dichtung jener Jahre war, die im politischen Geist Büchners verfaßt wurde.

Da ich keine Literaturgeschichte schreiben will, seien als Verfasser beachtenswerter Titel des Nachkriegs wenigstens dem Namen nach genannt: Doderer, Frisch, Dürrenmatt, Johnson. Über die Lyriker, Celan, Enzensberger, Krolow, Rühmkorf, habe ich in den Rückschritten der Poesie dieser Zeit geschrieben. — Dagegen glaube ich nicht, daß Martin Walser trotz seiner üppigen Romanproduktion das Ziel der poetischen Klasse erreicht hat. Mir scheint, daß er einer Selbsttäuschung erlegen ist und nicht eigentlich realisiert hat, daß er allenfalls ein Redner und Diskutierer, aber kein begabter, kein echter Erzähler ist.

Zu dem allgemeinen Problem, daß Schriftsteller sich über ihr Talent täuschen und ihr Werk falsch einschätzen können, äußerte sich T.S. Eliot mit den klaren Worten: „Kein ernsthafter Dichter kann jemals das sichere Gefühl haben, daß das, was er geschrieben hat von gleichbleibendem Wert bleiben wird. Es kann sein, daß er seine Zeit vergeudet und sein Leben verpfuscht hat für nichts und wieder nichts.“ (Van Wyck Brooks, Wie sie schreiben. München 1969, 66)

Wenn man aus diesen desillusionierenden Überlegungen eine Schlußfolgerung ziehen wollte, könnte man sagen: Wir sollten alles tun, um die wahren Kunstwerke zu erkennen, und alles vermeiden, was die schwachen Werke und nichtssagenden Romane aufwerten könnte.

J.Q. — 21. Feb. 2023

© J.Quack


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